#Das Ungeheure blieb ihr geläufig
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„Das Ungeheure blieb ihr geläufig“
Der letzte Text von Ruth Klüger, der in dieser Zeitung erschienen ist, war ein Beitrag zur „Frankfurter Anthologie“. Er galt dem „Morgenlied“, einem Gedicht von Sylvia Plath, geschrieben aus Anlass der Geburt ihrer Tochter Frieda und veröffentlicht 1960 in dem Gedichtband „Ariel“. Robert Lowell, dessen Seminar Plath zusammen mit Anne Sexton im Jahr zuvor besucht hatte, sagte nach dem Erscheinen des Bandes, er enthalte Gedichte, die „Russisches Roulette mit sechs Patronen im Lauf“ spielten.
Aber gilt dies auch für das „Morgenlied“? Es ist ein Gedicht über ein Thema, dass erstaunlich selten in der Lyrik behandelt wird, sehr viel seltener jedenfalls als die Liebe, das Sterben und der Tod. Die Erklärung, die Ruth Klüger für diesen Umstand hatte, ist bezeichnend: „Obwohl Geburt und Sterben sich statistisch mehr oder minder die Waage halten, sind Geburten ein kaum besungenes Ereignis. Gebären ist wohl Frauensache, und man überlässt die nicht zu übersehende Unvermeidlichkeit des Vorgangs den dichtenden Müttern, deren es nicht sehr viele gibt.“
Eine bedeutungsvolle Akzentverschiebung
Der spöttische, oft auch sarkastische Tonfall war ebenso charakteristisch für Ruth Klüger wie die Wahl dieses Gedichts, die man in verschiedenen Zusammenhängen betrachten kann. Hier sprach zunächst eine Frau, eine Liebhaberin und Kennerin der Lyrik, eine Mutter, eine Literaturwissenschaftlerin, aber hier sprach auch eine Überlebende des Holocaust.
Drei Jahre zuvor hatte Ruth Klüger ein Gedicht von Anne Sexton für die „Frankfurter Anthologie“ ausgewählt: „Abortion“, die Abtreibung. Was sie damals über Sextons Verse sagte, galt nun auch für das „Morgenlied“ von Sylvia Plath: „Es war ein Durchbruch, besonders für die Darstellung des weiblichen Intimlebens.“ Dreimal wiederholt Anne Sexton in „Abortion“ die Zeile, mit der sie ihr Gedicht beginnen lässt: „Somebody who should have been born is gone.“ Doch in Ruth Klügers eigener Übersetzung des Gedichts findet sich eine kleine, aber höchst bedeutungsvolle Akzentverschiebung: „Jemand, der leben sollte, ist weg.“ Statt auf dem Vorgang der Geburt liegt bei Ruth Klüger die Betonung auf dem Leben an sich. Nun lässt sich der Satz noch immer auf das ungeborene Leben beziehen, aber ebenso auf all jene, die sterben mussten, obwohl sie hatten leben sollen.
Mich hat ja auch niemand geschont
„Weiter leben“ nannte Ruth Klüger ihre 1992 erschienenen Erinnerungen an eine Jugend, die sie zunächst im antisemitisch geprägten Wien der dreißiger Jahre und dann in deutschen Konzentrationslagern verlebte. Sie war elf Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Mutter nach Theresienstadt und später nach Auschwitz-Birkenau und Christianstadt deportiert wurde. Kurz vor Kriegsende gelang Mutter und Tochter die Flucht nach Bayern. Mit fünfzehn Jahren machte Ruth Klüger das Notabitur und nahm ein Studium in Regensburg auf, wo sie Martin Walser kennenlernte, mit dem sie mehr als fünfzig Jahre lang befreundet war, bevor sie dem Schriftsteller 2002 nach Erscheinen des Romans „Tod eines Kritikers“ die Freundschaft aufkündigte. Zu diesem Zeitpunkt war Ruth Klüger, die 1947 zusammen mit ihrer Mutter in die Vereinigten Staaten emigriert war, in Deutschland längst eine Berühmtheit.
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