Wissenschaft

#Wie blinde Menschen Gesichter „sehen“

Gesichter zu erkennen, ist für unser Sozialleben von entscheidender Bedeutung. Mehrere Regionen in unserem Gehirn sind deshalb darauf spezialisiert. Doch wie ist es bei Menschen, die von Geburt an blind sind? Für eine Studie haben Forschende nun Blinde mit einem Gerät ausgestattet, das Bilder in Töne umwandelt und ihnen so ermöglichte, Piktogramme von Gesichtern, Häusern und geometrischen Formen an ihren akustischen Merkmalen zu erkennen. Hirnscans enthüllten, dass die auf diese Weise wahrgenommenen Gesichter in den gleichen Regionen verarbeitet werden, die auch bei sehenden Menschen für die Gesichtserkennung zuständig sind.

Verschiedene Regionen in unserem Gehirn sind daran beteiligt, dass wir uns Gesichter einprägen können und vertraute Personen wiedererkennen – eine grundlegende Fähigkeit für unser Sozialleben. Doch ist uns diese Fähigkeit angeboren, oder hängt sie von frühkindlichen visuellen Erfahrungen mit Gesichtern ab? Auf der Suche nach der Antwort auf diese Frage können Menschen helfen, die noch nie in ihrem Leben ein Gesicht gesehen haben, da sie blind geboren wurden.

Bildpunkte in Töne umgewandelt

Ein Team um Paula Plaza von der Georgetown University in Washington DC hat nun untersucht, inwieweit Hirnbereiche für die Gesichtserkennung auch bei Blinden aktiviert werden, wenn diese auf anderen Sinneskanälen Informationen über Gesichter wahrnehmen. „Es ist schon seit einiger Zeit bekannt, dass blinde Menschen den Verlust ihres Sehvermögens bis zu einem gewissen Grad durch den Einsatz ihrer anderen Sinne kompensieren können“, sagt Plazas Kollege Josef Rauschecker. „In unserer Studie haben wir untersucht, inwieweit diese Plastizität zwischen Sehen und Hören besteht.“

Dazu nutzte das Team ein sogenanntes sensorisches Substitutionsgerät. Dieses nimmt die Umgebung mit einer Kamera auf und wandelt die visuellen Informationen in Töne um. Nahezu in Echtzeit werden diese Töne per Kopfhörer abgespielt, wobei die Tonhöhe und der Stereoklang angeben, wo sich der entsprechende Bildpunkt befindet. Ein Punkt oben links im Blickfeld wird so zu einem hohen Ton, der am linken Ohr abgespielt wird, ein Punkt unten rechts zu einem tiefen Ton am rechten Ohr. Eine senkrechte Linie in der Mitte des Blickfeldes wird als Kombination hoher und tiefer Töne auf beiden Ohren ausgegeben. Nach und nach lässt sich so das Gesamtbild erfassen.

Mit den Ohren „sehen“

Sechs Menschen, die entweder von Geburt an blind waren oder ihr Sehvermögen innerhalb ihrer ersten zwei Lebensjahre vollständig verloren haben, trainierten für die Studie, mit Hilfe dieses Geräts einfache Formen und Piktogramme zu erkennen. Als Kontrollgruppe absolvierten zehn sehende Personen, die während des Trainings und der Experimente die Augen verbunden bekamen, das gleiche Training. Nach zehn jeweils einstündigen Trainingssitzungen waren sowohl die blinden als auch die sehenden Testpersonen in der Lage, mit einer Treffergenauigkeit von 85 Prozent verschiedene Piktogramme allein anhand der abgespielten Töne zu erkennen. Dazu zählten fröhliche, traurige und neutrale Gesichter, Häuser verschiedener Breiten und Höhen, sowie unterschiedliche geometrische Formen.

Für das eigentliche Experiment spielten die Forschenden ihren Probanden erneut die akustischen Muster für die entsprechenden Piktogramme vor und erfassten dabei ihre Hirnaktivität mit Hilfe von funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT). Um sicherzustellen, dass sich die Testpersonen nicht einfach Tonfolgen einprägten, sondern tatsächlich die jeweiligen Muster entschlüsselten, spielten sie die Töne in unterschiedlicher Reihenfolge ab – also beispielsweise in einem Durchlauf zuerst die Signale für die Bildpunkte oben links, in einem anderen Durchlauf zunächst die Signale für die Bildpunkte oben rechts.

Gesichtsareal im Gehirn aktiviert

Wie auch in den Trainingsdurchläufen erreichten blinde und sehende Testpersonen ähnlich hohe Werte bei der Erkennung der Piktogramme. Um herauszufinden, inwieweit die stilisierten Gesichter im Vergleich zu den anderen Motiven eine Sonderrolle einnehmen, legten die Forschenden ein besonderes Augenmerk auf das sogenannte fusiforme Gesichtsareal im Schläfenlappen des Gehirns – eine wichtige Region für die Verarbeitung von Gesichtern, die normalerweise auf visuelle Reize reagiert.

Und tatsächlich: Bei allen Testpersonen war das fusiforme Gesichtsareal im Gehirn aktiver, wenn sie Gesichter statt Häusern oder anderen Formen wahrnahmen – obwohl die entsprechenden Signale nur akustisch vermittelt wurden. „Unsere Studie zeigt, dass das fusiforme Gesichtsareal das ‚Konzept‘ eines Gesichts unabhängig vom Eingangskanal oder der visuellen Erfahrung kodiert“, erklärt Plaza. „Das deutet darauf hin, dass die Entwicklung des fusiformen Gesichtserkennungsbereichs nicht von der Erfahrung mit visuellen Gesichtern abhängt, sondern von der Erfahrung mit der Geometrie von Gesichtskonfigurationen, die auch durch andere sensorische Kanäle vermittelt werden können.“

Ansatzpunkt für Weiterentwicklungen

Auffällig war, dass die Aktivierung des Gehirns durch Schall bei den Blinden vor allem im linken fusiformen Gesichtsareal stattfand, bei den sehenden Testpersonen dagegen vor allem im rechten fusiformen Gesichtsareal. „Wir glauben, dass der Links-Rechts-Unterschied zwischen Blinden und Nichtblinden damit zu tun haben könnte, wie die linke und rechte Seite des fusiformen Areals Gesichter verarbeitet – entweder als zusammenhängende Muster oder als getrennte Teile“, sagt Rauschecker.

Für die Forschenden könnte das ein wichtiger Anhaltspunkt sein, um ihr sensorisches Substitutionsgerät weiterzuentwickeln. Bislang ist die Auflösung so gering, dass lediglich einfache Piktogramme abgebildet werden können. Weitere Informationen über die Verarbeitung im Gehirn könnten jedoch dabei helfen, auch komplexere Bilder verständlich zu übermitteln. „Wir würden gerne herausfinden, ob es für blinde Menschen möglich ist, zu lernen, Personen anhand akustisch übermittelter Bilder zu erkennen“, sagt Rauschecker. „Dazu ist vielleicht noch viel mehr Übung mit unserem Gerät nötig, aber da wir jetzt die Gehirnregion, in der die Übersetzung stattfindet, genau bestimmt haben, können wir unsere Prozesse vielleicht besser abstimmen.“

Quelle: Paula Plaza (Georgetown University Medical Center, Washington, DC, USA) et al., PLoS ONE, doi: 10.1371/journal.pone.0286512

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