#Viel Lärm um relativ wenig
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„Viel Lärm um relativ wenig“
Am Ende seiner Weihnachtsansprache im vergangenen Dezember hielt Boris Johnson den druckfrischen Handelsvertrag mit der EU in die Kamera und sagte grinsend: „Hier ist das Fest – voller Fisch übrigens.“ Fischereirechte und Fangquoten waren ein Haupthindernis gewesen in den Verhandlungen zum „EU-UK Trade and Cooperation Agreement“.
Das Ergebnis wurde auf 14 Seiten festgehalten, gefolgt von drei Anhängen mit Tabellen für 124 Fischsorten. Doch alle Liebe zum Detail half nichts: Schon wenige Monate nach dem Inkrafttreten des Vertrages sorgte die Fischerei für einen schweren Konflikt zwischen Großbritannien und Frankreich – und damit der EU.
Erstmals eskalierte er im Mai, als französische Fischer vor der Kanalinsel Jersey protestierten und eine Art Belagerungsring um den Hafen formten. London ließ zwei Patrouillenboote auslaufen, worauf Paris ebenfalls zwei bewaffnete Boote entsandte. Der Streit konnte schließlich in Verhandlungen entschärft werden – nur um im Oktober neu aufzuflammen.
Unmut in Schottland und Cornwall
Diesmal drohte Paris mit Sanktionen, sollte London nicht mehr Lizenzen ausstellen: Anlegeverbote für britische Kutter, mehr Lastwagenkontrollen an der Kanalgrenze und eine Erhöhung des Strompreises für die Kanalinseln. Daraufhin kündigte London rechtliche Maßnahmen an, sollten die Drohungen wahr gemacht werden. Anfang der Woche ließ Paris das Ultimatum verstreichen. Seither wird wieder verhandelt.
Bis Anfang des Jahres war Großbritannien Teil der Gemeinsamen Fischereipolitik geblieben. Das Land erhielt seine Quoten, wie alle EU-Staaten, aus Brüssel. Dies hatte schon in den Jahren zuvor in den Küstengebieten, vor allem in Schottland und Cornwall, zu Unmut geführt. Die Fischer wurden zum Rückgrat der Brexit-Bewegung, auch weil der Austritt unmittelbare wirtschaftliche Vorteile zu versprechen schien. Mit dem Brexit-Vollzug ist das Königreich, wie es die Library of Congress definiert, „ein unabhängiger Küstenstaat geworden und voll verantwortlich für das Fischerei-Management in der exklusiven Wirtschaftszone von bis zu 200 Meilen“.
Großbritannien darf im Prinzip allein bestimmen, wer Zugang zu seinen Gewässern hat. London wäre der sofortige Übergang zur Souveränität lieb gewesen, aber die EU drohte mit Marktbeschränkungen für britischen Fisch, weshalb man sich auf einen Kompromiss verständigte: Danach geht bis Mitte 2026 ein Viertel der EU-Fangquoten auf das Königreich über; danach wird jährlich verhandelt. Der gegenseitige Zugang wird seit Januar über ein neues Lizenzsystem organisiert – und ebendieses steht im Mittelpunkt des Streits.
Der britische Unterhändler David Frost verhandelt wieder mit den Franzosen.
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Bild: dpa
Frankreich wirft den Behörden in Großbritannien und in Jersey vor, Lizenzen vorzuenthalten. Berechtigt ist nach dem Vertrag, wer nachweisen kann, dass er in einem bestimmten Gebiet zwischen dem 1. Februar 2017 und dem 31. Januar 2020 gefischt hat. Dies stellt kleinere Kutter oft vor Nachweisprobleme, weil sie in der Regel nicht über GPS-Systeme verfügen. Die britische Vereinigung der Fischereiorganisationen machte unlängst darauf aufmerksam, dass das Unterscheiden zwischen Berechtigten, die Mühe mit dem Nachweis haben, und Trittbrettfahrern eine normale technische Übung sei, die „am besten durch einen ruhigen Dialog weit weg von schnell erregbaren Politikern“ durchgeführt wird.
Ebensolche Politiker regieren aber in Paris und London. Laut französischer Regierung halten die Briten Lizenzen absichtlich zurück, sie kämen also ihren Verpflichtungen nicht nach. London bestreitet das und sagt, Emmanuel Macron eskaliere den Konflikt, um sich im Wahlkampf als Vertreter nationaler Interessen profilieren zu können. Zudem wolle er demonstrieren, dass ein Austritt aus der EU Probleme schafft. Dabei nutzt der Konflikt mit Frankreich auch Johnson. Seit Januar sind negative Folgen des Austritts spürbar, was die Brexit-Begeisterung in Umfragen hat abnehmen lassen. Der Verweis auf angebliche Obstruktion aus Frankreich ist da eine willkommene Erklärung.
Der Konflikt konzentriert sich auf Jersey
Gesamtwirtschaftlich fällt die Fischerei weder für Großbritannien noch für Frankreich ins Gewicht. Aber die Branche ist bedeutend für Küstenregionen in beiden Ländern und schürt Emotionen. Wie viele Boote derzeit auf eine Lizenz warten, ist schwer zu ermitteln. London versichert, 98 Prozent aller EU-Antragsteller – 1700 – sei die Fangerlaubnis ausgestellt worden; bei den verbleibenden zwei Prozent müsse der Nachweis geprüft werden. Paris spricht von zehn Prozent vorenthaltener Lizenzen, die sämtlich französische Fischer beträfen.
Der Konflikt konzentriert sich auf Jersey. Dort wurden nach Informationen der lokalen Regierung 113 Lizenzen an französische Boote vergeben und in der vergangenen Woche noch einmal 49 Lizenzen mit begrenzter Laufzeit. 55 Anträge seien abgelehnt worden. Frankreich gibt dagegen an, dass seine Fischer für die Sechs-bis-zwölf-Meilenzone um Jersey und Guernsey 210 Lizenzen erhalten hätten. Beantragt worden seien aber 454. Der Streit wird auch genährt durch eine Lücke im Handelsvertrag. Der klärt zwar, was ein Antragsteller für seine Berechtigung nachweisen muss, aber nicht, wie.
Manche sehen eine Verbindung zum anderen Post-Brexit-Konfliktfeld: Nordirland. Aus britischer Sicht legte die EU und vor allem Frankreich den Austrittsvertrag – genauer: das Nordirland-Protokoll – besonders penibel aus, um Probleme für London zu schaffen. Nach dieser Lesart könnte London nun versucht sein, den Handelsvertrag übertrieben genau anzuwenden, um Frankreich Schwierigkeiten zu bescheren. Beide Konflikte muten technisch an, sind aber politisch: London will den Brexit zu einem Erfolg machen, Paris zu einem Misserfolg.
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