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#Vor Verstand ohne Empathie sei gewarnt

Vor Verstand ohne Empathie sei gewarnt

Unsere seinerzeit vierjährige Tochter konnte sich darauf verlassen, dass beide Eltern sofort einschritten, wenn ihr von ihrem zwei Jahre älteren Bruder oder von anderen Dritten Leid angetan wurde. Sie wusste, beide Eltern würden in einem Konflikt den jeweils Schwächeren schützen. Menschliche Zuwendung und eine ihrer Spezialitäten, die Empathie, sind ein begehrtes Gut. Gleichwohl gehören sie zu den eher knappen Ressourcen der realen Welt. Schlau, wie sie war, ärgerte die kleine Dame ihren Bruder gelegentlich auf diskrete Weise – gerne durch leise geflüsterte Provokationen –, bis dieser die Fassung verlor und offen aggressiv reagierte. Daraufhin forderte sie wiederum die empathische Unterstützung ihrer Eltern und eine Bestrafung des Bruders ein. Dass ihr Bruder auch kein Unschuldsengel war, blieb uns natürlich nicht verborgen. Gelegentlich spielte er das Spiel andersherum und behauptete fälschlicherweise, gereizt worden zu sein.

Hätte ich als Arzt und Neurowissenschaftler damals ein Buch mit dem Titel „Warnung vor Empathie in der Familie“ schreiben sollen? Hätte ich darin warnen sollen, dass Empathie Spaltungen befördern kann, da nicht wenige Eltern das geschilderte Spiel ihrer Kinder tatsächlich nicht durchschauen, was oft innerfamiliäre Spaltungen nach sich zieht („Du hältst immer zu Kind A!“ – „Weil Du immer zu Kind B hältst!“)? Spaltungen dieses Typs finden sich auch in Klassenzimmern und auf Borderline-Stationen psychiatrischer Kliniken. Und sie vollziehen sich, angefeuert durch die sozialen Netzwerke, in der Öffentlichkeit. Jüngstes Beispiel sind die Unklarheiten im Anschluss an einen Vorfall am Abend des 4. Oktober in einem Leipziger Hotel. Der Sänger Gil Ofarim hatte berichtet, beim Check-in wegen seiner jüdischen Identität diskriminiert worden zu sein. Von einer vom Hotel beauftragten Rechtsanwaltskanzlei befragte Zeugen widersprachen der Darstellung des Sängers. Er habe aus einem unbedeutenden Konflikt eine antisemitische Provokation gemacht. Weder die Aussagen des Sängers noch die der Zeugen haben Beweiskraft.

Leicht entflammbare Gefühlsregungen

Kai Spanke nahm die fraglichen Geschehnisse um Gil Ofarim zum Anlass, in der F.A.Z. vor zu viel voreiliger Empathie zu warnen. Empathie könne, die öffentliche Debatte zeige es, „Polarisierung befördern“, sie sei außerdem „wenig förderlich für moralische Prozesse“. Ohnehin sei „die präzise Unterscheidung zwischen Gut und Böse ein Signum fiktiver Sphären in Film und Literatur“. Tatsächlich jedoch gehört zur Empathie neben der intuitiven Einfühlung die Fähigkeit, die Überlegungen und Motive der Gegenseite bewusst und kritisch zu reflektieren. Ein dritter Bestandteil wirklicher Empathie ist die Bereitschaft, für den Adressaten der Empathie auch etwas zu tun.

Dem in den Medien veranstalteten Theater um den Leipziger Vorfall fehlen mindestens zwei dieser drei Kriterien. Einen nicht geringen Beitrag zu vorschnellen einseitigen, ungeprüften Verurteilungen leisten, da hat Kai Spanke recht, die sozialen Netzwerke des Internets. Doch was hat das mit Empathie zu tun? Das Internet ist ein Raum für die schnelle Ausbreitung billiger, leicht entflammbarer Gefühlsregungen. Dass manche die Empathie zu nicht empathischen Zwecken im Namen führen, ist der Empathie ebenso wenig anzulasten, wie es der Moral nicht angelastet werden kann, dass Moralität zu gänzlich unmoralischen Zwecken missbraucht werden kann. Im Übrigen ist die Moral ein Kind der Empathie. Immanuel Kants kategorischer Imperativ hat zur Voraussetzung, dass wir uns in die Position des jeweils anderen hineinversetzen können.

Nüchternes Abwägen ist immer geboten

Dass Gil Ofarim zunächst sofort öffentlichen Beistand erhielt, wird auch dann richtig bleiben, wenn sich herausstellen sollte, dass sich der Vorfall am 4. Oktober anders abgespielt haben sollte, als von ihm wahrgenommen worden war. Von traumatisierten Menschen ist bekannt, dass bestimmte Merkmale einer äußeren Situation eine Wahrnehmung zur Folge haben, die für die Betroffenen Realität ist, zugleich aber von der Wahrnehmung anderer abweichen kann. Leider haben wir in jüngerer Zeit in Deutschland eine Serie von Vorkommnissen erlebt und eine daraus resultierende Situation, die für einige unserer jüdischen Mitbürger einer Traumatisierung – also einer Gefährdung, ohne wirksam reagieren zu können – gleichkommt.

Andererseits: Dass die Beschäftigten an der Rezeption ebenfalls Beistand erhalten haben, wird auch dann richtig bleiben, wenn sich die Vorwürfe Ofarims nachträglich als berechtigt erweisen sollten. Wir werden das System der Sanitäts- und Notarzt-Rettungswagen doch nicht infrage stellen, weil hier und da jemand Symptome nur simuliert oder weil auch ein Notarzteinsatz am Einsatzort „Polarisierung befördern“ könnte (was leider gar nicht so selten vorkommt). Es ist mithin geboten, der Empathie den nüchternen, abwägenden Verstand an die Seite zu stellen. Vor Verstand ohne Empathie wäre hingegen zu warnen. Letztlich würde er uns einem unmenschlichen Utilitarismus anheimfallen lassen.

Joachim Bauer, Jahrgang 1951, ist Arzt und Neurowissenschaftler. Im Oktober hat er das Buch „Das empathische Gen“ veröffentlicht (Herder Verlag).

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