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Walburga Hülks Biographie des Dichters Victor Hugo

Am 2. Dezember 1851, einem „trüben, kalten Frühwintermorgen“, erwacht Victor Hugo gegen seine Gewohnheit erst um acht Uhr in seiner Wohnung in einem bürgerlichen Viertel von Paris. Als er beim Aufstehen erfährt, dass der gewählte Präsident Louis-Napoléon Bonaparte einen Staatsstreich gegen das Parlament in Gang gesetzt hat, steckt er „einige große Geldscheine“ in seine Taschen, verschlingt „mit zwei Bissen ein Kotelett“ und läuft auf die Straße, wo er sofort beginnt, die im Morgengrauen plakatierten Erlasse der neuen Regierung abzureißen.

In den folgenden Tagen versucht er durch Appelle und Zeitungsartikel, das Volk gegen die Putschisten zu mobilisieren und die ausbrechenden Barrikadenkämpfe zu steuern, doch seine Be­mü­hun­gen sind vergebens. Am 11. Dezember besteigt er in Arbeiterkleidung und mit einem falschen Pass, „unterzeichnet in krakeligen Buchstaben ohne die geringste Ähnlichkeit mit der feinen Handschrift des Dichters“, den Nachtzug nach Brüssel und geht ins Exil.

Walburga Hülk: „Victor Hugo – Jahrhundertmensch“. Eine Biografie. Matthes & Seitz, Berlin 2025, 500 S., geb., 38.– €.
Walburga Hülk: „Victor Hugo – Jahrhundertmensch“. Eine Biografie. Matthes & Seitz, Berlin 2025, 500 S., geb., 38.– €.Matthes & Seitz

So schildert Walburga Hülk in ihrer Hugo-Biographie die Ereignisse, die das Leben ihres Protagonisten für immer verändern sollten. Dabei vergisst sie auch Marx nicht, der in seiner Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon“ das Bonmot von der geschichtlichen Tragödie prägen wird, die sich als Farce wiederholt, und erwähnt sogar Jérôme-Napoléon, „genannt Plon-Plon“, den Cousin des Präsidenten, der den Dichter noch im November besucht hatte, um ihn zu warnen. Doch das Auge der Erzählerin bleibt auf Victor Hugo gerichtet.

Sie folgt ihm nach Brüssel, wo er seine Vertrauten und die Familie um sich versammelt, und von dort weiter nach London und Southampton, wo er die Fähre zur Kanalinsel Jersey besteigt. Dort lässt er sich vorläufig nieder, in einem weiß gestrichenen Haus, „gastfreundlich wie Schnee“, aus dessen südlichen Fenstern der Blick bis zum Leuchtturm von Saint-Malo reicht: „Das immerhin zeigte ihm, dass es sein Land noch gab.“

Er stand für den Geist der Dichtkunst und das Erbe der Revolution

Der Satz wirkt nicht zufällig wie ein literarisches Zitat. Walburga Hülk, pensionierte Romanistikprofessorin aus Siegen, hat sich beim Schreiben ihrer Biographie von ihrem Gegenstand nicht nur inspirieren, sondern geradezu infizieren lassen: Sie erzählt Victor Hugos Leben, als wäre es ein Roman von Hugo. Da sind die schwierige Kindheit als Spross einer bald zerbrechenden Ehe, die Jugend im Internat, die Geisteskrankheit des Bruders Eugène, der frühe dichterische Ruhm und der Durchbruch mit „Hernani“, dem Stück, das einen Theaterskandal entfacht.

Dann der Jahrhunderterfolg des „Glöckners von Notre-Dame“, die Konversion vom Royalisten zum Republikaner, die politische Karriere, die durch den Coup Louis-Napoléons beendet wird, und die Flucht aus Paris. Bis dahin war Hugo der Kopf der romantischen Schule in Frankreich, gebeutelt von familiärem Leid – seine älteste Tochter ertrank bei einem Bootsunglück – und beschäftigt mit zahllosen Affären. Durch das Exil wurde er zum Nationalsymbol. Er stand für den Geist der Dichtkunst, die dem Operettenregime des „petit Napoléon“ trotzte, und für das Erbe der Revolution, das seinen publizistischen Kampf ge­gen Sklaverei und Todesstrafe beflügelte.

Der Patriarch und sein Clan: Victor Hugo und seine Familie auf Guernsey im Jahr 1866
Der Patriarch und sein Clan: Victor Hugo und seine Familie auf Guernsey im Jahr 1866Picture Alliance

Der Roman, den er während seines fast zwanzigjährigen Inseldaseins verfasste, gibt dieser Doppelrolle eine literarische Form: „Die Elenden“ ist Revolutionspanorama, Familienepos, moral tale und französische Sozialgeschichte zugleich. Als Musical unter dem Originaltitel sind „Die Elenden“ immer noch populär, und vor ein paar Jahren liefen „Les Misérables“ auch als sechsteilige Miniserie wieder über die Bildschirme der Welt. Doch beinahe das gesamte übrige Werk Hugos ist hinter dem geschichtlichen Horizont versunken – Dramen, Romane, Tagebücher, Hunderte von Gedichten.

Das weiß auch Walburga Hülk, und deshalb steht ihr Buch unter ei­nem doppelten Anspruch: Sie will Hugo für sich entdecken; und sie will ihn für uns wiederentdecken. Die beiden Perspektiven kommen einander nicht selten ins Gehege, besonders dann, wenn es um den Privatmann, genauer: den Mann Victor Hugo geht. So merkt die Biographin vorsichtig an, die zweideutigen Dialogzeilen, die Hugo seiner Geliebten Juliette Drouet in ei­nem seiner Stücke auf den Leib schrieb, würden heute „nicht ohne Aufschrei und ‚hashtag‘ passieren“. Einige Seiten später aber preist sie ganz unverblümt des Dichters Virilität: „Er liebte die Frauen, junge, hübsche, geistreiche und kluge, und sie liebten ihn. Er lüftete gerne ihre Röcke.“

Sein Blick ging übers Meer nach Frankreich: Cartton von André Gill für das Satireblatt „La Lune“, 1867
Sein Blick ging übers Meer nach Frankreich: Cartton von André Gill für das Satireblatt „La Lune“, 1867Picture Alliance

Man könnte es auch anders sagen: Hugo war ein Frauenverbraucher, ein untreuer Ehemann, ein Patriarch alter Schule und unheilbarer Narziss, und er war es in Personalunion mit dem Part des moralischen Gewissens der Nation. Dieser Charakterzug färbt auch auf sein politisches Engagement ab: In Zeitungsartikeln und Volksreden – gern vom Kutschbock herab – fordert er Völkerverständigung, Arbeiterwohlfahrt und gleiches Recht für alle, aber wenn es um ihn selbst geht, nimmt er sich, was er braucht.

Sein Haus auf Guernsey, wohin er bald aus Jersey übersiedelt, staffiert er mit seidenen Wandbehängen und gedrechselten Säulen wie das Domizil eines Maharadschas aus, und nachdem er seine Tochter Adèle, die gemütskrank aus der Karibik zurückgekehrt ist, in einer Anstalt untergebracht hat, besucht er sie dort kein einziges Mal. Manchmal vergreift er sich am gleichen Tag an der Köchin und am Zimmermädchen; „cloche“ („Glocke“) steht dann im Tagebuch als Codewort für erotischen Vollzug. Hugo, mit anderen Worten, ist ei­­ne Karikatur von Lampedusas „Leopard“: ein Fürst, aber auch ein Tartüff. Ein Gigant und ein Gernegroß.

So wollte er sich selbst sehen: der Dichter im Exil auf einer zeitgenössischen Fotografie
So wollte er sich selbst sehen: der Dichter im Exil auf einer zeitgenössischen FotografiePicture Alliance

Wären da nicht die Romane. In ihnen treffen der Träumer, der Moralist und der Könner zusammen, und sie dürften der Grund sein, warum Walburga Hülk dieses Buch geschrieben hat. Dabei verhehlt sie nicht, dass sie „Die Arbeiter des Meeres“ für ein krudes Stück Kolportage („Hugos pulp fiction“) hält. Aber „Der Glöckner von Notre-Dame“, „Die Elenden“ und der Revolutionsbilderbogen „1793“ bringen sie ins Schwärmen. „Hugo schildert eine Welt im Taumel“, schreibt sie über den „Glöckner“, der „so brüchig und bunt wie das Leben, so vielfältig wie die große Stadt, so fremd wie das späte Mittelalter und so unsicher und widersprüchlich wie sein eigenes Jahrhundert“ sei. „Zugleich ist diese Welt so fantastisch wie ‚Der Herr der Ringe‘ oder ‚Harry Potter‘.“

An diesem Punkt – und in anderen Passagen, in denen es um Hugos Werk geht – kippt der Enthusiasmus der Biographin für ihr Thema ins Kunstgewerbliche. Und der Leser merkt plötzlich, was ihm in diesem schwungvollen Lebensbericht fehlt: Distanz. Ein Abstand beispielsweise, aus dem man erkennen könnte, was Hugos romantische Prosa von der knapperen, kühleren Sprache Flauberts unterscheidet. Oder mit welcher Meisterschaft er in der Schlussszene des „Glöckners“ zwischen der Perspektive Quasimodos, der seines Widersachers Frollo und den Kommentaren eines auktorialen Erzählers („Wer je die Türme von Notre-Dame erklommen hat, der weiß, dass . . .“) hin und her wechselt.

Dieser analytische Blick gehört nicht zur Grundausstattung der Biographistik. Aber er unterscheidet eine große von einer guten Künstlerbiographie. In Auguste Rodins Bron­zedenkmal für Hugo scheint der Dichter von dem Felsen, auf dem er sitzt, verschlungen zu werden. Bei Walburga Hülk wird er von der Bewunderung eingehüllt, mit der die Autorin sein Leben und Werk betrachtet. So schimmern seine Konturen in zauberischem Licht. Aber es bleibt auch manches verborgen, das man gern genauer betrachtet hätte.

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