Warum ein Eselrennen so faszinierend ist

In Siena veranstalten sie seit 1633 ein weltberühmtes Pferderennen. Zweimal im Jahr jagen dort die Contrade – die Stadtviertel – ihre Reiter auf galoppierenden Vollblütern im Kreis, begleitet von Trompeten und einem Spektakel sondergleichen. Was macht man da als kleiner Nachbar 40 Kilometer entfernt in Torrita di Siena? Auch ein Pferderennen? Mitnichten. Während die Sieneser ihren Palio mit Pathos und Pferdestärken aufladen, feiern die Torritaner ihren Palio mit Humor und eigensinnigen Tieren: den Somari, den Eseln.
Der Palio dei Somari ist wohl das unberechenbarste, charmanteste Rennen Italiens. Jedes Jahr im März treten unter der Schirmherrschaft des heiligen Joseph acht Stadtteile gegeneinander an – vertreten von acht Eseln, auf deren Rücken sich jeweils ein hoffnungsvoller Jockey versucht.
Es dauert, bis sich die Esel mit der Vorstellung angefreundet haben, einen Reiter durch die Arena zu tragen. Auch dass sie die vorgegebene Richtung einschlagen, ist keineswegs garantiert. Manch ein Jockey musste sein Rennen schon entnervt aufgeben, weil der Esel an diesem Festtag andere Pläne hatte, als im Kreis herumzurennen.
Im Internet findet sich ein Video aus vergangenen Jahren, das zeigt, wie ein Reiter mit rot-blauem Helm und kräftiger Statur auf einem Esel sitzt und begeistert auf ihn einklopft – offenbar in der Hoffnung, das Tier möge sich in ein Rennpferd verwandeln. Doch der Esel bleibt ein Esel und trägt seinen aufgeregten Reiter mit stoischer Würde durch die Kurve.
Ob dieser Reiter im nächsten Jahr noch am Start war? Eher nicht. Denn so bunt und lebendig das Fest ist, im Zentrum steht der Respekt vor den Tieren. Die Satzung schreibt vor, dass jeder Jockey, der seinen Esel mit Gewalt antreibt oder sonst wie schlecht behandelt, mit bis zu zwei Jahren Sperre belegt wird.
Während im Video der Esel den Reiter mit rot-blauem Helm unbeeindruckt weiterträgt, wirft ein Eselkollege seinen menschlichen Ballast kurzerhand ab und trabt davon. Ohne Reiter, ohne Zügel. Der Esel läuft weiter. Läuft an die Spitze, bleibt dort und geht schließlich als Erster über die Ziellinie. Die Menge tobt.
Der Esel? Bleibt gelassen, wie es sein Wesen ist. Im Ziel wird er gefeiert. Er ist der Sieger. Beim Palio dei Somari gewinnt das Tier, ob mit Reiter oder ohne. Das ergibt Sinn. Schließlich rennen hier die Esel und nicht die Reiter.
Ganz aktuell: Den 68. Palio dei Somari hat Ende März die Contrada Cavone gewonnen. Genauer gesagt: Peppo, der Esel, hat gewonnen. Er hat den Reiter Jonathan Guerri ins Ziel getragen. Es war erst der sechste Sieg von Cavone in der langen Geschichte des Rennens, das nur einen Star kennt: den Esel.
Er ist kein dummer Sturkopf, als der er bisweilen verunglimpft wird. Er ist ein stiller Rebell mit unerschütterlichem Ruhepuls – klug und ausdauernd. Er hat Charakter, ist sozial, hilfsbereit. Manchmal kommt es vor, dass der führende Esel im Rennen auf die anderen wartet. Einfach so. Warum auch nicht.

Und wenn Sie mich jetzt fragen: Fährst du nächstes Jahr lieber nach Ascot oder Siena oder nach Torrita di Siena? Zu den Pferden oder zu den Eseln? Dann muss ich nicht lange überlegen: zu den Somari natürlich.
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