Warum wir den Anteil von Minderheiten überschätzen

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Wir überschätzen häufig, wie viele Angehörige von Minderheiten tatsächlich in unserem Land leben. Das ist jedoch weder ein nationales noch ein politisches Phänomen, sondern vor allem ein genereller menschlicher Denkfehler, wie Forschende nun belegt haben. Er kommt durch die geistigen Prozesse zustande, mit denen wir Proportionen einschätzen – und bei mangelndem Wissen dabei häufig falsch liegen. Demnach stufen wir Kleingruppen regelmäßig als größer ein, als sie tatsächlich sind, und große Gruppen als kleiner. Der Effekt ist umso stärker, je weniger wir über die abgefragte Gruppe wissen.
Wenn Menschen befragt werden, wie viele Angehörige von Minderheiten in ihrem Land leben, überschätzen sie deren Anteil an der Gesamtbevölkerung regelmäßig stark. US-Amerikaner geben beispielsweise bis zu doppelt so hohe Zahlen an, wenn sie den Anteil der Afroamerikaner, Latinos, Muslime, Asiaten, Juden, Einwanderer oder der LGBTQ-Gemeinschaft in den USA schätzen sollen. Auch in anderen Ländern wird der Ausländer-Anteil höher eingeschätzt, als er real ist. Die Gruppengröße der Mehrheit unterschätzen die meisten Menschen dagegen. Das gilt unabhängig davon, ob die Befragten der jeweils abgefragten Mehr- oder Minderheit angehören.
Eine mögliche Erklärung für diese Fehlwahrnehmung ist laut Sozialwissenschaftlern, dass die Befragten die Minderheiten als Bedrohung wahrnehmen und Vorurteile zu einer falschen Einschätzung führen. Eine andere Hypothese besagt, dass Menschen, die viele Sozialkontakte zu Angehörigen von Minderheiten pflegen oder die über Medienberichte indirekt regelmäßig Kontakt zu diesen Gruppen haben, deren Anteil als höher einschätzen. Das kann durch falsche Zahlen in den Berichten oder durch die Häufigkeit der Berichte erfolgen. Doch was ist dran an diesen Erklärungen?
Unwissenheit führt zu Verzerrung zur Mitte hin
Das haben nun Forschende um Brian Guay von der Stony Brook University in New York überprüft. Dafür werteten sie Befragungen von über 36.000 Testpersonen aus 22 Ländern aus, die in den letzten 30 Jahren durchgeführt wurden. Darin gaben die Teilnehmenden unter anderem Schätzungen dazu ab, wie groß ihrer Ansicht nach verschiedene Gruppen ethnischer und nicht-ethnischer Minderheiten in ihrem Land jeweils sind. In manchen Tests sollten sie auch Proportionen politisch unumstrittener Themen schätzen, beispielsweise wie oft der Buchstabe „A“ in einem vorgegebenen Text vorkommt oder wie viele Menschen in ihrem Land eine Waschmaschine besitzen. Diese Angaben verglichen die Forschenden dann mit empirischen Daten zu den realen Anteilen. Zudem werteten sie Erhebungen dazu aus, wie stark sich Personen von bestimmten Gruppen bedroht sehen.
Die Auswertung ergab, dass die Schätzwerte immer zur Mitte hin verschoben sind, also zum Anteil von 50 Prozent an der Gesamtmenge. Diese Marke trennt bekanntermaßen Minder- und Mehrheiten und dient den Befragten als Hauptrichtwert. Wenn Menschen die genaue Zahl, nach der sie gefragt werden, nicht kennen, stufen sie Proportionen von vermuteten Minderheiten stets als größer ein, Anteile von vermuteten Mehrheiten dagegen systematisch als kleiner, so dass die Werte näher am Schwellenwert von 50 Prozent liegen. Demnach gibt es ein allgemein-psychologisches Muster in unserer Denkweise, kleine Prozentwerte zu über- und große Anteile zu unterschätzen, wie die Forschenden erklären. Dadurch kommt es zu den oft beobachteten Fehleinschätzungen bei Gruppengrößen. Dieses Muster gilt bei der Einschätzung von Proportionen jeglicher Art, nicht nur für den Prozentwert von Minderheiten an der Gesamtbevölkerung. „Dies wird auch als ‚Regression zur Mitte‘ bezeichnet und ist ein statistisches Gesetz“, das bei zufälligem Raten generell gilt, bestätigt auch Hans Alves, Professor für Soziale Kognition an der Ruhr-Universität Bochum, der nicht an der Studie beteiligt war.
Allgemeiner Schätzfehler überlagert soziale und politische Effekte
Dieses allgemeinpsychologische Muster erklärte die Schätzfehler bei den Minderheiten insgesamt deutlich besser als die bisherigen beiden Hypothesen, die das Phänomen sozialpsychologisch oder politisch erklären. Nur wenige der Fehlwahrnehmungen ließen sich zusätzlich auch auf die gefühlte Bedrohung durch eine Gruppe oder auf die Sozialkontakte zurückführen, wie Guay und seine Kollegen berichten. Tendenziell beobachtete das Team: Je mehr weitere Anhaltspunkte und Informationen Menschen durch Medien oder Erfahrungswerte zu dem abgefragten Thema hatten, desto eher passten sie ihre Angaben an diese Erwartungswerte an und desto weniger verschätzen sie sich bei dem vermuteten Anteil. Zum Beispiel schätzen Angehörige von Minderheiten ihre eigene Gruppengröße zwar ebenfalls oft zu groß, aber insgesamt realistischer ein als Außenstehende, weil sie ihre Gemeinschaft besser kennen.
Umgekehrt führten durch diesen Effekt aber auch vermeintliches Wissen, Fehlinformationen und Vorurteile zu einer stärkeren Fehleinschätzung der Lage, weil die Angaben unbewusst an falsche Erwartungswerte angepasst werden. Themenspezifische Vorurteile und gefühlte Bedrohungen sind demnach nicht die Hauptursache für die Fehleinschätzungen der Bevölkerungs-Demografie, können den bestehenden Denkfehler aber verstärken. „Unsere Erkenntnisse fordern Forscher, Journalisten und Experten gleichermaßen dazu auf, ihre Interpretation falscher Vorstellungen über die demografische Struktur der Gesellschaft zu überdenken“, schreibt das Team. Zugleich legen die Erkenntnisse aber auch nahe, dass Desinformationen die Wahrnehmung verzerren und mehr Wissen über andere Bevölkerungsgruppen dem entgegenwirken könnte.
In Folgestudien wollen Guay und seine Kollegen nun der Frage nachgehen, ob ein ähnliches Phänomen und ähnliche Denkfehler auch auftreten, wenn wir abstraktere Häufigkeiten schätzen sollen – etwa, wie häufig Todesfälle durch Botulismus oder einen Herzinfarkt sind. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2025; doi: 10.1073/pnas.2413064122)
Quellen: Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), Science Media Center
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