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#Ein Schreckenszar im Verfolgungswahn

„Ein Schreckenszar im Verfolgungswahn“

Für ein bislang fast unbekanntes Werk eines weltweit bekannten, von den internationalen Opernspielplänen nicht wegzudenkenden Komponisten ist es eigentlich ein ungünstiges Premierendatum, wenn es von der Realität eingeholt wird. So scheint es sich jetzt mit Georges Bizets Grand Opéra „Ivan IV.“ zu verhalten, die musikalisch mitreißend durch den Dirigenten Philippe Bach und den Chorleiter Manuel Bethe gestaltet und von Hinrich Horstkotte am Staatstheater Meiningen sowohl ausgestattet wie in Szene gesetzt wurde. Der überhaupt erste russische Zar ging als „der Schreckliche“ in die Geschichtsbücher ein, es könnte aber auch mit „der Mächtige“ übersetzt werden. Angesichts des Jahrestages des russischen Überfalls auf die Ukraine hat diese 1864/65 fast zeitgleich mit Bizets „Perlenfischern“ in Paris entstandene, als vieraktiger Torso jedoch erst 1951 in Bordeaux auf die Bühne gebrachte Oper über den mordenden, entführenden und vergewaltigenden Tyrannen wenig Chancen auf eine Rezeption, die nicht von aktueller Betroffenheit dominiert würde.

Die Gräuel-und-Liebes-Handlung, angelehnt an die historisch verbürgte zweite Ehe des Zaren Iwan (er lebte von 1530 bis 1584) mit der tscherkessischen Regententochter Maria (den Namen nahm sie erst nach der Hochzeit an), erweckt zwangsläufig Assoziationen zum heutigen Russland mit seinem mörderischen Eroberungsfeldzug, die ein Verstehen des Werks aus den Produktionsbedingungen seiner Entstehungszeit heraus, als Paris die Opernhauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts war, leicht verhindern können. Gerade aber die in Meiningen noch vor dem ersten Ton würdig angesetzte Gedenkminute für die Opfer des Krieges und auch das Schlussbild mit einem großen weißen Laken über allen Akteuren, das nach dem ersten Vorhang mit den ukrainischen Nationalfarben erleuchtet war, nahmen der Aufführung und damit dem Kennenlernen des fremden Werks den von ihm selbst ablenkenden Aktualitätsdruck.

Wie sicher kann man sich in einem fensterlosen Verlies fühlen?

Durch die narrativen und historischen Brüche im Libretto von François-Hippolyte Leroy und Henri Trianon, in dem etwa die vom Zaren gleichermaßen geliebte wie gehasste Tscherkessin aus dem Kaukasus eine Muslimin ist, obwohl die Tscherkessen damals nicht dem Islam angehörten, dann aber von Anfang an Maria heißt, sowie der ebenso brutale wie zur innigsten Liebe und zur Gnade fähige Zar nie eindeutig musikalisch charakterisiert wird, hatte sich Bizet von einem russisch-nationalistischen Klangkolorit weitgehend frei gemacht. So schuf er eine monumentale Musizier-, Chorgesangs- und Solistenoper, deren Handlung und Musik wirklich unter die Haut gehen und in der selbst die Marseillaise nicht weiter verwundert hätte.

Szene aus „Ivan IV.“ am Staatstheater Meiningen


Szene aus „Ivan IV.“ am Staatstheater Meiningen
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Bild: Christina Iberl

Horstkottes pittoresker Doktor-Schiwago-Kostümmix unterstrich dieses komplett videofreie (danke dafür), fluide Formenspiel deutlich. Dass sich ein persönlichkeitsgespaltener Diktator nur in einem fensterlosen Verlies vermeintlich sicher fühlt, wenn er überhaupt etwas fühlt, unterstrich der düstere, hochwandige Bühnenraum mit Belüftungsschlitzen. Ein wieder abgelegter Sprengstoffgürtel, mit dem Marias Bruder Igor (vom Tenor Alex Kim intonatorisch so entschlossen wie präzise gesungen) den Herrscher töten, sich also für die Entführung der Schwester rächen wollte, aktualisierte fast schon nebensächlich.

Folkloristisch getanzt werden durfte auch

Warum „Ivan IV.“ des damals sechsundzwanzigjährigen Bizet, der übrigens freundschaftliche Kontakte zu Iwan Turgenjew unterhielt, am Théâtre Lyrique zwar schon geprobt, jedoch nicht uraufgeführt wurde, mag am angekündigten Besuch des tatsächlichen Zaren Alexander II. zur Pariser Weltausstellung 1867 gelegen haben, der mit Episoden aus dem Leben des ersten russischen Zaren nicht verärgert werden sollte. Immerhin, Bizet verarbeitete Teile aus „Ivan IV.“ in späteren Werken bis hin zu der von Turgenjew direkt angeregten „Carmen“ (1873/74) und nutzte die Partitur damit als inspirierendes Teilelager.

Eigentlich war die in Meiningen als szenische Uraufführung geplante, um einige nicht orchestrierte Szenen schon 1975 von Howard Williams vervollständigte Version für Herbst 2021 vorgesehen gewesen. Corona kam dazwischen. Das Sankt Petersburger Kammertheater brachte die Uraufführung dann vorigen Dezember. Mit der deutschen Erstaufführung oder auch Erstaufführung innerhalb der Europäischen Union hat das Meininger Theater wieder Wachheit und Mut, dazu auch beste historische wie philologische Kenntnis bewiesen.

Folkloristisch getanzt werden durfte auch, hier vom Chor selbst zu Anfang des dritten Akts, geschickt arrangiert. Bizet hätte damit seinerzeit durchaus die demokratisierende Selbstvergewisserung des Pariser Bürgertums bestens bedient, wie es ihm mit seinem ständigen Vexierspiel schönster, natürlich auch dunkelster Klangfarben in dieser dynamisch-stimmlichen Effektoper gelungen wäre, die Hörer zu bezaubern: sirrende Streicher, instrumentale Sololinien, gar eine Barkarole und immer wieder das Tutti, aus dem heraus die ebenso verzweifelten, aufgewühlten wie lyrischen, dann wieder sehr pastoralen, gesanglich immer alles fordernden Linien sämtlicher Solisten und des sie voluminös ummantelnden Chors aufsteigen.

Horstkottes schauspielerfahrene Personenregie, der Darstellungsdrang der wunderbaren Besetzung, allen voran die expressive Sopranistin Mercedes Arcuri als Maria, der mental wie auch stimmlich starke Bass Tomasz Wija als Ivan und immer wieder der hervorragend eingestimmte Chor ließen letztlich dem Werk seinen Kunstrang über dem tatsächlichen Toben der heutigen Welt. Vergessen wurde Letzteres nicht. Das war auch gut so.

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