#Wer boxt, achtet nicht aufs Glaubensbekenntnis
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„Wer boxt, achtet nicht aufs Glaubensbekenntnis“
In der ersten Folge geht es um „Glaube und Heimat“. Das 1910 uraufgeführte Stück des umstrittenen Wiener Dramatikers Karl Schönherr handelt von der letzten gewaltsamen Vertreibung einer protestantischen Minderheit durch eine katholische Mehrheit im Zillertal 1837. Durch die düstere „Volkstragödie“ zieht sich das Thema der rohen Gewalt, die in einer kleinen Dorfgemeinschaft ausbricht, weil unterschiedliche Glaubensvorstellungen sie spalten. Der erbitterte Dogmenstreit kulminiert im ergreifenden Bild einer Vertriebenen, die ihre Nachbarn anfleht, auf ihre Hühner zu schauen – aber die wollen mit „lutherischen Hennen“ nichts zu tun haben.
Bernd Stegemann, Dramaturg und seinerzeit Vordenker der politischen Sammelbewegung „Aufstehen“, stellte das selten gespielte Stück des national gesinnten Dramatikers Schönherr im vergangenen Jahr in dieser Zeitung vor. Im Dezember inszenierte es dann Michael Thalheimer am Berliner Ensemble als dunkle Parabel auf den Verlust jeglicher Barmherzigkeit. Was die Produktion neben den phantastischen Schauspielern so eindrucksvoll machte, war das monumentale Bühnenbild von Nehle Balkhausen: ein massiver, quaderförmiger Turm, der kein Innenleben hat, sondern nur abwehrt und abstößt.
Bühnenbilderin Nehle Balkhausen vor der leeren Bühne des Berliner Ensembles
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Bild: Florian Hofmann
Gewalttätigstes Bühnenbild
Beim Filminterview im ausgestorbenen Zuschauerraum des Berliner Ensembles erzählt Balkhausen von ihrer Idee, einen rotierenden „Urort“ zu schaffen, der den Konflikt zwischen Glauben und Heimat ausdrückt. Der im Deutschen so kontrovers konnotierte Begriff der „Heimat“ ist für sie Anreiz, sich mit bildlichen Ausdrucksformen des Ankommens und Fortmüssens zu beschȁftigen. Bei ihrem Emtwurf ließ sie sich von der Kaaba, dem fensterlosen, quaderförmigen Gebetsgebȁude in Mekka inspirieren, aber verkehrte die Vorzeichen, um die düstere Seite der Heimat in Szene zu setzen. Enstanden ist das vielleicht gewalttȁtigste, einschüchternste Bühnenbild der letzten Jahre. Die Gewalt damals ist nicht die Gewalt von heute – und doch spielen Glaubenskonflikte und Gewaltausbrüche auch in unserer Zeit eine Rolle, insbesondere in bildungsfernen, minderpriviligierten Milieus, dort, wo Körperkraft mehr zählt als die korrekte Ausdrucks- und Umgangsform.
Die lebensweltliche Ableitung aus Schönherrs vergessenem Stück führt vier junge Schauspielerinnen und Schauspieler in den Kreuzberger Boxclub „SC Lurich Berlin“, wo Jugendtrainer Antonio Sola Santiago vom Wert der disziplinierten Selbstreflexion und der gewalteinhegenden Wirkung des Boxens berichtet: „Wer hierherkommt, hat einen Halt, ein Ziel, aber er lernt auch, mit einer Niederlage umzugehen.“ Jeder, der auf der Straße umsetzt, was er im Boxclub lernt, fliegt sofort aus dem Verein, betont Santiago. Er glaube fest daran, dass regelmȁßige Kampfsituationen im Rahmen des Sports dabei helfen könnten, Gewaltausbrüche im alltäglichen Leben einzudämmen.
Hätte sich der aggressive Glaubenskrieg zwischen den Zillertaler Dorfbewohnern also verhindern lassen, wenn sie einmal pro Woche zum Boxtraining gegangen wären? Wer weiß. In jedem Fall gilt: Wer boxt, achtet nicht auf das Glaubensbekenntnis, sondern nur auf die Deckungsschwȁche des Gegners.
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