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Wermut Soda ist Zeitgeist auf der Zunge

Auf „Hi, wie geht’s?“ antworte ich derzeit mit „privat gut, politisch schlecht“ – und meine es auch so. Die Großkrisen stimmen trübselig. Instabilität ist das neue Normal. Ich versuche mich trotzdem am guten Leben; koste die langen Tage aus, sitze mit gutem Kaffee und tollen Freunden in der Sonne und plane den Sommerurlaub. Und dennoch, das dumpfe Gefühlscluster aus Sorge und Trauer verleiht den schönen Momenten einen bitteren Beigeschmack: den Wermutstropfen. Und da sich hinter jedem Drink bekanntermaßen ein Lebensgefühl verbirgt, fällt die Wahl auf Wermut Soda.

Entdeckt habe ich den Aperitif vor einigen Sommern in Valencia. Tapasbars servieren den aromatisierten Kräuterwein dort erschwinglich und pur auf Eis. Es musste am süßen Kostenfaktor liegen, und sicherlich auch am sanft berauschenden Alkoholgehalt, dass an diesem Abend so viele meiner Freunde aus dem Erasmus-Programm ein Glas davon in den Händen hielten.

Wermut war für mich bis dahin stets eine Zutat für Cocktails gewesen, nie aber ein für sich stehender Geschmacksträger. Ich wollte es wissen – und hatte schnell eine bittere Angelegenheit mit viel Restzucker auf der Zunge. Unwillkürlich dachte ich an Kindertage mit dickflüssigem Hustensaft auf Plastiklöffeln – und daran, zum Mineralwasser auf dem Tisch zu greifen. Kurzerhand verdünnte ich den sattroten Likörwein, bis es im Glas bitzelte. Der Inhalt schmeckte nun ausgewogen bitter-süß.

Damals war ich völlig ahnungslos

Mit dem juvenilen Höhenflug, gerade einen ziemlich trinkbaren Drink für 4,50 Euro gemixt zu haben, reichte ich das Glas an meine Unifreunde weiter. Es wurde der erste von vielen unbeschwerten Abenden im Barrio del Carmen, an dem wir uns Wermut mit je einem der für Spanien typischen, leicht salzigen Mineralwasser bestellten.

Ein Wermut Soda steht für sich, ist unaufgeregt, zurückhaltend – und doch so mehrdeutig.
Ein Wermut Soda steht für sich, ist unaufgeregt, zurückhaltend – und doch so mehrdeutig.Niko Ostojic

Heute weiß ich, dass ich damals völlig ahnungslos war. Kannte mein zwanzigjähriges Ich nur einen klebrig-würzigen Vermouth Rojo, will ich heute zwischen weiß, rot und trocken unterscheiden können. Soda und Tonic Water sind selbstverständliche Filler, und die Marke ist entscheidend. Das Geschmacksprofil eines Wermuts geht in alle Richtungen. Es kann eine frische Note von Kräutern und Zitrusfrüchten oder eine karamellige Würze haben. Irgendwo dazwischen lassen sich Gras, Salbei, Minze, Anissamen und Orange erahnen. Das namensgebende Wermutkraut ist für die charakteristische Bitternote und idiomatische Wendung verantwortlich. Wohl dosiert schmeckt der buchstäbliche Wermutstropfen hervorragend.

Kapernapfel als Topping

Für einen guten Wermut Soda sechs Zentiliter von einem Martini Rubino, Noilly Prat oder Discarded Cascara in ein gekühltes und mit Eiswürfeln befülltes Glas geben. Mit mindestens der zweifachen Menge Sodawasser auffüllen. Möglichst schonend umrühren, um die Kohlensäure zu bewahren. Eine Orangenzeste über dem Glas zerdrücken und hinzugeben – fertig! Für ein herbes Aroma kommt der Kapernapfel als Topping infrage.

In der Frankfurter Bar Moloko sind sich die Bartender uneins, welche Garnitur nun die bessere ist. Bianchi Lerotic betreibt die Bar mit ihrem Mann Tomislav seit 24 Jahren. Einig sei sich das Team aber dennoch: Der Wermut Soda ist der Feierabenddrink schlechthin. „Je nach Jahreszeit und Temperatur ist es ein super vielfältiges Getränk, das je nach Wermut und Garnitur in eine würzigere oder erfrischende Variante verwandelt werden kann“, sagt Lerotic. „Anders als bei einem Longdrink wird der Wermut bei uns nicht mit dem Sodawasser an der Seite gereicht, sondern als Highball.“ So liege das Mischverhältnis in den Händen der Profis.

Ob nun in Frankfurt oder auf den Terrassen Valencias: Ein Wermut Soda steht für sich, ist unaufgeregt, zurückhaltend – und doch so mehrdeutig. Während das Weltgeschehen nicht abreißt, stoße ich damit erschöpft zum Feierabend an und denke an unbeschwerte Zeiten zurück. Der Drink hat mich in meinen süßen Zwanzigern begleitet und geht nun schleichend in seiner nachgesagten Phrase auf. Das ist okay – ist mein Wermutstropfen tatsächlich nicht so bitter, wie die Realität manch anderer.

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