#Wie geht Evolution ohne Sex?

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Sex gilt als zentraler Motor der Evolution. Doch nicht für die Hornmilbe: Sie pflanzt sich ungeschlechtlich fort – und zwar schon seit mehr als 20 Millionen Jahren. Wie schafft es dieses Spinnentier, ohne Sex für genetische Vielfalt zu sorgen? Eine Studie hat dafür nun mehrere Mechanismen entdeckt. Demnach können sich die beiden Chromosomensätze der Hornmilbe unabhängig voneinander entwickeln. Dadurch entsteht ein Spielraum für evolutionäre Neuerungen. Auch die Genexpression ist flexibel reguliert und „springende Gene“ sorgen für genetische Innovationen. Zudem nimmt die Milbe neues Genmaterial aus ihrer Umwelt auf.
Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung wird das Erbgut beider Elternteile neu kombiniert. Auf diese Weise sichern Spezies ihre genetische Vielfalt, die es ihnen ermöglicht, sich flexibel an neue Umweltbedingungen anzupassen. „Dem wissenschaftlichen Konsens zufolge ist Sex eine Voraussetzung für langfristiges evolutionäres Überleben“, erklärt ein Team um Hüsna Öztoprak von der Universität zu Köln. Denn ohne die Durchmischung des Erbmaterials droht eine genetische Stagnation und damit im Extremfall das Aussterben.
Unabhängige Chromosomensätze
„Doch einige asexuelle Arten überdauern die Zeit und widersprechen damit dem Konsens. Wie sie dieser Sackgasse entkommen, ist rätselhaft“, so Öztoprak und ihre Kollegen. Eine dieser Arten hat das Forschungsteam nun genauer unter die Lupe genommen: die Hornmilbe Platynothrus peltifer. Seit mindestens 20 Millionen Jahren legen die Weibchen dieser Art unbefruchtete Eier, aus denen neue Weibchen schlüpfen, die sich ebenfalls ungeschlechtlich fortpflanzen. Männchen kommen im gesamten Fortpflanzungsprozess nicht vor. Aner wie schaffen es die Milben, dennoch eine hohe genetische Vielfalt aufrecht zu erhalten und evolutionär anpassungsfähig zu bleiben?
Anhand von Genomanalysen sind Öztoprak und ihr Team nun den Geheimnissen der Hornmilbe auf die Spur gekommen. Demnach liegt der Schlüssel für die Evolution ohne Sex darin, dass sich die beiden Chromosomenkopien einer Hornmilbe unabhängig voneinander entwickeln können. Dadurch entstehen im Laufe der Zeit Unterschiede zwischen den Genkopien, die neue Kombinationen ermöglichen. Dieses Phänomen ist als Meselson-Effekt bekannt und sorgt dafür, dass auch ohne Sex neue genetische Varianten entstehen können.
Evolutionäre Experimente mit Backup-Lösung
Wie die Forschenden feststellten, spielt dabei die Regulation der Genexpression eine wichtige Rolle. Wenn sich in einem der beiden Chromosomensätze eine Mutation ergibt, dient der andere Chromosomensatz quasi als Backup mit der bewährten Variante. Ist die neue Mutation nicht vorteilhaft, wird die ursprüngliche Version abgelesen und die Milbe hat keinen Nachteil. Bietet die neue Mutation jedoch einen Vorteil – etwa zur Anpassung an eine Veränderung der Umwelt – wird die mutierte Variante aktiv und verschafft der Milbe einen Selektionsvorteil. Ähnlich verhält es sich mit „springenden Genen“, auch als „transponierbare Elemente“ bezeichnet. Diese DNA-Abschnitte können ihre Position innerhalb des Genoms verändern und so ebenfalls Variationen erzeugen. Dabei sind sie in den beiden Kopien des Chromosomensatzes unterschiedlich aktiv.
Ein weiterer Trick der Hornmilbe für mehr Vielfalt ist der sogenannte Horizontale Gentransfer. Dabei wird neues genetisches Material aus der Umwelt aufgenommen und ins eigene Erbgut integriert. Diese DNA-Stücke können von Bakterien oder Viren stammen, aber auch von Pflanzen oder anderen Tieren. „Horizontaler Gentransfer, bei dem sogar Gene von artfremden Organismen übertragen werden können, funktioniert wie das Hinzufügen neuer Werkzeuge zu einem bestehenden Werkzeugkasten“, erklärt Öztoprak. „Einige der auf diese Weise erworbenen Gene scheinen der Milbe beispielsweise zu helfen, Zellwände zu verdauen und somit ihr Nahrungsspektrum zu erweitern.“
Aus Sicht der Forschenden ist die asexuelle Hornmilbe eine interessante evolutionäre Ausnahme, die dabei helfen kann, die Vor- und Nachteile der sexuellen und der asexuellen Fortpflanzung besser zu verstehen. Die Studie liefert Einblicke darin, wie auch asexuelle Spezies für genetische Vielfalt sorgen und so ihr Fortbestehen langfristig sichern können. „In künftigen Forschungsprojekten möchten wir herausfinden, ob es noch weitere Mechanismen gibt, die für eine Evolution ohne Sex von Bedeutung sind”, sagt Öztopraks Kollege Jens Bast.
Quelle: Hüsna Öztoprak (Universität zu Köln) et al., Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.adn0817
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