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Wie Systemsprenger die Jugendämter belasten

Im März 2019 gibt es im Jugendamt eine Fallkonferenz, und wieder einmal sind sich die Fachleute schnell einig: Nur eine stationäre Unterbringung möglichst mit einer Eins-zu-eins-Betreuung kann hier helfen. Doch sie finden keine Einrichtung, die Tim Rudert aufnehmen will, wieder einmal. Bei der Polizei wird der Dreizehnjährige immer häufiger angezeigt.

„In den letzten Wochen scheint Tim keinerlei Unrechtsbewusstsein zu haben und jegliche Straftaten ohne Reue zu begehen“, heißt es in seiner Akte. Ende 2019 wirft Tim einen Böller in einen Kinderwagen. Nur weil der Vater des einjährigen Kindes den Feuerwerkskörper rechtzeitig entfernen kann, bleibt es unverletzt.

Tim Rudert, der eigentlich anders heißt, ist ein „Systemsprenger“. So werden Kinder und Jugendliche genannt, bei denen alle staatlichen und gesellschaftlichen Hilfestellungen versagen. Jugendhelfer, Sozialarbeiter, Ärzte und die eigenen Eltern kapitulieren meistens nach Jahren vor ihnen. Es gibt Fälle, in denen ein „Systemsprenger“ die gesamten Ressourcen eines Jugendamts lahmlegt. Und diese Fälle nehmen zu.

Der Fall von Tim Rudert ist typisch, anhand der umfangreichen anonymisierten Akte lässt er sich präzise nachzeichnen: von der Geburt 2006, als Kind deutscher Eltern, der Bildungsstandard niedrig, bis zur Volljährigkeit und ins Gefängnis.

Die Mutter überträgt ihr Feindbild vom Vater auf den Sohn

Tims Leidensweg beginnt, als er drei Jahre alt ist. Mitarbeiter des zuständigen Jugendamtes registrieren erste Indizien, die für eine Kindeswohlgefährdung sprechen könnten: Alkoholmissbrauch in der Familie, es kommt zu innerfamiliären gewaltsamen Konflikten. Das Jugendamt beginnt mit sozialpädagogischen Hilfen, doch die Situation eskaliert, als Tims Bruder sich endgültig entschließt, bei seinem Vater zu leben.

Die Mutter verkraftet den Wegzug nicht. Sie beginnt, ihr aggressives Feindbild vom Vater auf Tim zu übertragen. Dem jungen Sohn wirft sie vor, die „schlechten Gene“ seines Vaters zu haben. Tim leidet darunter, sein Sozialverhalten wird immer auffälliger, schon mit acht Jahren muss er erstmals in eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen werden; ein zweiter Aufenthalt erfolgt Ende 2015, ein dritter wenige Monate später. Tim wird medikamentös eingestellt, die Situation verbessert sich.

Kinder und Jugendliche in einer Einrichtung der Jugendhilfe
Kinder und Jugendliche in einer Einrichtung der JugendhilfePicture Alliance

Ende 2016 kommt es jedoch in der Regelschule zu schweren Konflikten: Der Schulleiter berichtet, dass Tim „sehr schnell an die Decke geht“, er könne seine Aggressionen nicht steuern, lasse sich kaum beruhigen. Es bahnt sich ein erneuter, kurzfristig positiver Kontakt zum Vater an, nachdem dieser beim Familiengericht einen Sorgerechtsantrag gestellt hat. Tim wohnt noch nicht lange bei seinem Vater, als der ihm sagt: Man löse Konflikte, indem man „einmal reinschlage“, denn danach werde „wieder alles gut“.

Tim nimmt an sozialer Gruppenarbeit in einem Kinderzentrum teil. Die Mutter hofft, ihren Sohn wieder bei sich unter Kontrolle zu bringen. Ende 2017 eskaliert die häusliche Situation wieder: Zwei- bis dreimal in der Woche schlägt der neue Lebenspartner der Mutter den Jungen. Nachbarn berichten, dass im Haus fast jeden Tag geschrien werde, seine Mutter nennt ihn „Arschlochkind“, Tim erzählt Nachbarn, dass er seine Mutter und ihren Lebensgefährten immer beim sehr lauten Geschlechtsverkehr höre.

Als er dem Partner sagt, dass ihn die Geräusche störten, droht dieser damit, ihn totzuschlagen. Es kommt zu einem Gespräch mit einem Mitarbeiter des Jugendamtes: Er wünsche sich, heißt es in den Akten, dass sich die Kindsmutter vom Lebensgefährten trennt, weil es ihm dann besser gehe. Tim ist im Verlauf des Gesprächs so nervös, dass der Mitarbeiter des Jugendamtes ihn nicht verstehen kann. „Noch am selben Tag wurde Tim in Obhut genommen.“ Er wird in einer stationären Abteilung für Kinder- und Jugendpsychia­trie untergebracht, rastet fast täglich aus, die Behandlung dauert vier Monate.

Ein Tag in einer Intensivwohngruppe kostet zwischen 500 und 600 Euro

Das Phänomen „Systemsprenger“ wird nur selten öffentlich diskutiert. Eine größere Öffentlichkeit erreichte das Thema durch den gleichnamigen Film von Nora Fingscheidt 2019. Wenn zur Betreuung eines Systemsprengers zwei Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes, ein Fachpfleger und ein Sozialarbeiter nötig sind, wird es sehr teuer. Die Unterbringung in einer Intensivwohngruppe kostet zwischen 500 und 600 Euro pro Tag, ein Heimplatz zwischen 180 und 250 Euro. Es gibt Fälle, für die die Landkreise pro Tag mehr als 1000 Euro ausgeben. Für Härtefälle müssen die Jugendämter dann pro Monat etwa zwischen 15.000 und 20.000 Euro aufwenden.

Es gibt auch Systemsprenger mit Mi­grationshintergrund, sie sind aber eher unterrepräsentiert, auch wenn seit dem Ukrainekrieg in vielen Landkreisen einige besonders schwere Fälle hinzugekommen sind: Unter den Kriegsflüchtlingen sind häufig schwer alkoholabhängige Mütter mit stark hilfsbedürftigen Kindern. Auch wird immer wieder von schwer integrierbaren Kindern aus Roma-Familien berichtet, die mit ukrainischen Pässen eingereist sind.

Bundesweite Zahlen zu Systemsprengern gibt es nicht. Beim baden-württembergischen Landkreistag aber heißt es beispielsweise, dass die Jugendämter immer häufiger mit dem Problem konfrontiert seien. Die Kinder- und Jugendhilfe werde zunehmend von Systemsprengern belastet, die aufgrund ihrer spezifischen Verhaltensauffälligkeit nicht adäquat versorgt werden könnten und für die deshalb in regelmäßigen, meist kurzen Abständen die nächste Einrichtung gesucht werden muss.

Im Fall von Tim Rudert macht das Jugendamt Anfang 2018 mehrere Fallkonferenzen, doch die Mitarbeiter der Jugendhilfe halten eine „vollstationäre Maßnahme“ für zwingend. Kurze Zeit später wechselt Tim auf die Sonderschule. Nachdem er ein Video verbreitet hat, in dem eine kokainartige Substanz geschnupft wird, mit einem Baseballschläger auf seine Mutter losgegangen ist und es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung in der Sonderschule gekommen ist, wird Tim, der gerade einmal zwölf Jahre alt ist, mit Hand- und Fußfesseln aus der Schule geführt. Es erfolgt abermals die Unterbringung nach Paragraph 34 Sozialgesetzbuch VIII. Auch in der stationären Unterbringung kooperiert Tim nicht, nimmt die Medikamente nicht ein und lässt sich kein Blut abnehmen.

Er wird mit Handschellen aus der Wohngruppe abgeführt

In den folgenden zwei Jahren eskalieren die Auseinandersetzungen in der Intensivwohngruppe, in die er mühevoll inte­griert wurde, immer wieder. Die Mitarbeiter des Jugendamtes sind der Auffassung, dass Tim nur stationär mit einer Eins-zu-eins-Betreuung zu helfen ist. Die Mutter stimmt dem Vorschlag nicht zu.

Tim kehrt für kurze Zeit zu seinem Vater zurück, aber auch dort gerät die Situation wieder außer Kontrolle. Nun stimmt die Mutter doch einer stationären Unterbringung zu, aber die Anfragen an mehr als 30 Jugendhilfeeinrichtungen nach einem Betreuungsplatz bleiben erfolglos.

Tim zieht in eine Wohngruppe, doch auch dieser Hilfeversuch scheitert: Tim wird wieder mit Handschellen aus der Wohngruppe abgeführt und in einer stationären Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht. Es wird ein erneuter Versuch unternommen, Tim bei seinem Vater unterzubringen. Auch das scheitert, nur wenige Wochen später landet Tim schon wieder auf einer geschlossenen Station der Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Er verweigerte die Anforderungen des Klinikpersonals und sprach wiederholt Drohungen aus“, heißt in der Fallanalyse des Jugendamts. Auch sei es erneut zu einem körperlichen Übergriff gekommen, bei dem Tim eine Mitarbeiterin mit dem Stuhl bedroht habe.

Auch wenn es wenige Fälle sind – die Kosten sind hoch

Schaut man die Zahl in einem typischen deutschen Landkreis wie etwa Göppingen in Baden-Württemberg an, dann registrierte das Jugendamt 2019 24 „Systemsprenger“ – oder, wie die Sozialarbeiter sagen, „herausfordernde junge Menschen“. Das ist angesichts von insgesamt 355 vollstationären Jugendhilfefällen im selben Jahr in diesem Landkreis eine geringe Fallzahl. Eine bundesweite Statistik gibt es nicht. Es handele sich um eine „heterogene Zielgruppe mit unscharfen Rändern“, heißt es in der Fachliteratur.

Fachleute schätzen, dass zehn Prozent aller jungen Menschen, die „Hilfen zur Erziehung“ nach dem achten Sozialgesetzbuch bekommen, zu dieser Kategorie gehören. Diese zehn Prozent verursachen dann aber etwa 25 Prozent der Kosten in den Jugendhilfe-Etats der Landkreise. „Die Fallzahl ist gering, aber diese Fälle binden eben große personelle Ressourcen in einer angespannten Situation und sind natürlich sehr sichtbar“, sagt Marco Lehnert, Dezernent für Jugend und Soziales im Landkreis Göppingen. Man müsse beim Thema Systemsprenger immer sehen, dass es sich um junge Menschen handle, die nicht so geboren seien, sondern dass sie aufgrund vielfacher leidvoller Erfahrungen in diese Situation gekommen seien.

„Wir haben zur Verbesserung der Betreuung ein fallübergreifendes Netzwerk aufgebaut, in das Jugendhilfe, Sozialamt, Jobcenter, Polizei, die Wohnungslosenhilfe, die Justiz, die Schulen und die Beratungsstellen einbezogen werden.“ Leider sei es in den vergangenen Jahren durch den Mangel an Wohngruppenplätzen zwischen unterschiedlichen Landkreisen und Bundesländern zu einer Art „Import-Export-Bewegung“ von „Systemsprengern“ gekommen.

In vielen Ländern und Landkreisen fehlen Plätze und vor allem Personal zur Betreuung von „Systemsprengern“. Die Pandemie, die angespannte Finanzlage der Kommunen und die zusätzliche Betreuung von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen haben zu einer Verschärfung der Situation beigetragen.

„Tatsache ist, dass die Jugendämter immer wieder und letztlich auch immer häufiger vor dem Problem stehen, sogenannte Systemsprenger im Rahmen der vollstationären Hilfe zur Erziehung versorgen zu müssen“, sagt Alexis von Komorowski, Hauptgeschäftsführer des baden-württembergischen Landkreistages. „Diese Kinder und Jugendlichen können nicht im regulären Setting der Heimerziehung oder sonstiger betreuter Wohnformen untergebracht werden, da die Bedarfe dieser massiv auffälligen und herausfordernden Kinder und Jugendlichen in einer Regelwohngruppe nicht gedeckt werden können.“ Andere Kinder und Jugendliche dürften zwar durch die „Systemsprenger“ nicht gestört werden, aber eine völlige Abschottung sei auch nicht der richtige Weg, damit „eine Rückführung in ein reguläres Setting“ möglich bleibe.

Die Kapazitäten sind begrenzt

Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule der Kaiserswerther Diakonie in Düsseldorf, macht auch Mängel in der Betreuung und Versorgung dieser Jugendlichen für die Zunahme der Fallzahlen verantwortlich: „Dass es mehr Systemsprenger gibt, liegt auch daran, dass Systemsprenger oft Jugendliche oder Kinder sind, die zu spät die falsche oder gar keine Hilfestellung von den Jugendämtern bekommen haben.“ Er weist daraufhin, dass die Kapazitäten begrenzt sind. „Dann eskaliert die Situation häufig, und es ist zu spät.“ Oftmals sei die erforderliche Hilfeleistung nicht abrufbar, ein Heimplatz oder eine Intensivwohngruppe.

Für die Zunahme der Fälle macht der Pädagoge aber noch weitere Phänomene verantwortlich. „Das Hauptrisiko ist das Erleben von häuslicher Gewalt“, sagt er. Die zunehmende Wohnungsnot, die zunehmende gesellschaftliche Segregation in Arm und Reich, Armut und Bildungsungerechtigkeit seien ebenfalls wesentliche Bedingungsfaktoren für eine psychiatrische Erkrankung, die am Anfang einer „Systemsprenger“-Karriere stünden. Wenn die Jugendhilfe darauf angemessen reagieren wolle, benötige sie entsprechende Kapazitäten und eine gute Koordination der Maßnahmen.

Bei den Ursachen nennt Baumann noch einen weiteren Aspekt. „Ein Pro­blem ist auch, dass viele Eltern ihre Kinder heute als Partner missverstehen“, sagt er. Erziehung sei heute mehr auf Augenhöhe, was gut sei – aber dennoch brauchten Kinder eine klare Position. „Kommt es dann zu Konflikten, dann können die Kinder oder Jugendlich nicht mit Autoritäten umgehen.“ Die Zustände in den Jugendämtern seien häufig dramatisch: „Leider ist es heute so, dass wir immer mehr Jugendliche in der stationären Therapie haben, die wir nicht entlassen können, weil es keine Entlassungsanschrift gibt.“ Manche lebten auch als Obdachlose auf der Straße. „Andere können nicht in Obhut genommen werden, auch wenn es dringend erforderlich wäre.“

Im Zug schlägt er einen Rentner nieder

Tim Rudert wird mit 13 Jahren wieder in einer Wohngruppe der Jugendhilfe untergebracht. Dort konsumiert er Marihuana und schaut Pornos, es kommt wieder zu Ausrastern und Drohungen gegenüber Mitarbeitern und Mitbewohnern. Die Polizei ermittelt wegen Diebstahls und Körperverletzung, Tims Drogenkonsum nimmt zu.

Die stationäre Unterbringung, die die Fachleute des Jugendamts für dringend notwendig halten, scheitert daran, dass sie keine Einrichtung für Tim finden. Wenig später wirft der den Böller in den Kinderwagen. Ende 2019 fällt er wieder durch eine Gewalttat auf: Im Zug schlägt er einen behinderten Rentner nieder, nur weil er von diesem gebeten wurde, die Füße vom Sitzpolster zu nehmen, einige Tage später verprügelt er einen Mitte fünfzig Jahre alten Mann auf der Straße, nachdem es zu einem Streit kam.

Kaum ist Tim strafmündig, wird er von einem Jugendgericht zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Ein gutes Jahr nach seiner Inhaftierung diagnostizieren die Ärzte bei ihm eine schwere neurologische Erkrankung. Er wird krankheitsbedingt frühzeitig aus der Haft entlassen. Tim kehrt in die Wohnung seiner Mutter zurück und lebt bei ihr. Trotz eines Erziehungsbeistands scheitert auch dieser Versuch eines gemeinsamen Lebens in der Wohnung der Mutter. Drei Monate nach seiner krankheitsbedingten Entlassung aus der Haft wird Tim wieder inhaftiert.

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