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#Wie wir werden, was wir sind

„Wie wir werden, was wir sind“

Neulich war ich im Kino und habe mir „Nachbarn“ von Mano Khalil angesehen. Der Film lief natürlich in einem kleinen, feinen Programmkino, wo Filme dieser Art meistens laufen. Popcorn gab es nicht, aber der Film, das war mir klar, war sowieso kein Popcornfilm. Kurdisches Kino kann bisweilen sehr lustig sein (meist eher auf die tragisch-komische Art lustig), aber Popcornkino ist es nie. Und so kam es auch. Ich hatte mir vorab kaum was zu dem Film durchgelesen, nur gehört, dass er wohl auf den eigenen Erinnerungen Mano Khalils beruht und in den Achtzigern in einem Dorf in Syrien direkt an der türkischen Grenze spielt.

Der Film dann war ein Schock. Alles darin war mir bekannt. Entweder kannte ich es aus meinen eigenen Erinnerungen (von der Landschaft bis hin zu den Gardinen im Wohnzimmer der Familie, die identisch mit den Gardinen im Haus meiner Großeltern waren), oder ich kannte es aus Geschichten, die mein Vater jahrelang erzählt hat. Zwar war die Filmfamilie eine muslimisch-kurdische und nicht wie meine eine ezidisch-kurdische. Aber sonderlich religiös ging es damals in den Achtzigern in Nordostsyrien sowieso nicht zu (der Imam mit seiner blechernen Stimme wird die meiste Zeit nur ausgelacht).

Hafez-al-Assad-Märchenstunde

Auch alles andere kannte ich aus Erzählungen: wie die Kinder mit den Minen aus dem Grenzstreifen ihren Schabernack treiben. Das dörfliche Leben: Die Strommasten sind zwar schon gebaut, aber Elektrizität gibt es noch lange nicht. Wie der Geheimdienst die Leute drangsaliert, verschleppt und nach Wochen halb tot gefoltert in den Staub wirft. Wie der Lehrer, ein überzeugter Baathist, mit dem Schlagstock die arabische Sprache in die kurdischen Kinder hineinprügelt. Der Schulunterricht, der vor allem aus Fahnenappell, Hafez-al-Assad-Märchenstunde und antisemitischer Propaganda („die vereinte arabische Welt gegen den Kindermörder Israel“) besteht.

Natürlich ging es noch um eine ganze Reihe anderer Dinge, um die unerfüllte Liebe zwischen dem kurdischen Aram und der Tochter der jüdischen Nachbarsfamilie Hannah, um Tante Sawda und ihren cholerischen Ehemann, um Seros Wunsch nach einem Fernseher, um endlich Cartoons gucken zu können (Spoiler: Den Fernseher bekommt er dann auch, nur Cartoons gibt es nicht, stattdessen das ewig gleiche Gesicht von Hafez al-Assad in einem der ewig gleichen Hafez-al-Assad-Propagandafilme).

Ich verließ das Kino mit einer Mischung aus Wut, Tränen und Fragen. Es ist das erste Mal, dass ich diese Geschichte, die eben auch die Ge­schichte meiner Familie ist, auf einer Leinwand sehe.

Was Nationalismus anrichtet

Ich bin mit dem kurdischen Kino aufgewachsen, mit Filmen von Yilmaz Güney und Bahman Ghobadi – kurdischen Regisseuren, die wie Mano Khalil in ihren Filmen kurdische Geschichten über kurdische Menschen erzählen. Man könnte auch sagen: unsichtbare Geschichten unsichtbarer Menschen, wenn man nur daran denkt, was für eine Aufregung ein weißer „Kürdistan“-Schriftzug auf grüner Wiese (Einblendung des Ortes) und ein paar kurdisch gesprochene Worte in Yilmaz Güneys Film „Yol – Der Weg“ auslösten. Es war geradezu eine Revolution. Schließlich war die kurdische Sprache in der Türkei damals verboten.

In Mano Khalils „Nachbarn“ gibt es eine Szene, in der sich Seros Familie nach langer Zeit wieder an der türkisch-syrischen Grenze trifft – seine Großeltern mütterlicherseits leben auf der anderen Seite. Doch kaum haben sie sich begrüßt, werden sie auch schon auf beiden Seiten von den Soldaten angebrüllt – die türkischen Soldaten brüllen, sie sollen Türkisch, die syrischen Soldaten brüllen, sie sollen Arabisch miteinander sprechen. Und weil sich die Familie nur auf Kurdisch verständigen kann, wird ihr Treffen gewaltsam aufgelöst. Diesen Film auf sein identitätspolitisches Potential zu reduzieren, greift zu kurz. Mano Khalil erzählt auch davon, was Nationalismus, sozialistische Indoktrinierung und antisemitische Hetze in dem Leben von Einzelnen anrichten. Die Figuren sind keine bloßen Repräsentanten, sie sind Menschen, deren Leben zwischen die Mahlsteine der Diktatur gerät. Die Gewalt in diesem Film über die Achtziger findet ihre Fortsetzung in der Gewalt von heute.

In einer Welt, in der Kurdischsein immer auch ein Politikum ist, werden die Filmemacher zu Klägern, der Film zum Gericht – wer sind wir, wie sind wir zu dem geworden, und was ist?

In letzter Zeit, wenn ich die Berichte zu den Protesten in Iran, insbesondere in den kurdischen Gebieten sehe, muss ich auch oft an die Filme von Bahman Ghobadi denken. Besonders an seinen Film „Halbmond“ von 2006, in dem sich ein todkranker kurdischer Sänger aus Iran auf den Weg nach Erbil macht, um dort sein letztes Konzert zu spielen. Dabei kommt er in ein Dorf, in dem 1334 verbannte kurdische Sängerinnen leben, die in Iran nicht singen dürfen. Die Frauen stehen auf den Dächern, auf den Plätzen und Mauern mit ihren riesigen Daf-Trommeln und singen. Was für eine Wucht! Es ist derselbe Ruf nach Freiheit, der auch heute auf den Straßen zu hören ist.

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