#Wissenschaftskritik: Vergebliche Suche nach Einfachheit
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„Wissenschaftskritik: Vergebliche Suche nach Einfachheit“
Die Welt als eine Art Uhrwerk, im Kern einfach und vorhersagbar – das war im achtzehnten Jahrhundert eine moderne Idee. In solch einer Welt lieferte die Wissenschaft eine Methode, auf der Grundlage von Daten und Gesetzen in die Zukunft sehen zu können — beliebig genau im Prinzip, sofern nur die Datenqualität stimmt. Große Denker waren Anhänger dieser Vorstellung, Isaac Newton etwa oder John Stuart Mill. Die Idee einer prognostizierbaren Welt ist ohne Frage ganz zauberhaft. Allerdings wissen wir heute, rund 300 Jahre später, dass sie falsch ist. Weil komplexe Systeme, wie sie in der Welt leider dominieren, ganz anders funktionieren.
Komplexe Systeme erfordern unangenehme Dinge wie Statistik, verlangen ermüdende Unterscheidungen wie die zwischen Korrelation und Kausalität. In ihnen interagieren unzählige Einflüsse und Faktoren. Sie reagieren teils empfindlich auf kleinste Parameteränderungen. Das undurchsichtige Ganze lässt sich nicht ordentlich auf überschaubare Teile reduzieren. Die schöne Schwarz-Weiß-Welt der Wahrheiten und Sicherheiten zerfasert in hässliche Grautöne von Wahrscheinlichkeiten und Fehlerabschätzungen.
Wenn „Modellvorhersagen“ nicht eintreffen
Das ist enttäuschend. Die resultierende Frustration ist noch heute zu spüren. Man kann sie etwa im Vorwurf an die epidemiologischen Modellierer erkennen, ihre „Modellvorhersagen“ seien nicht eingetreten. Auch in der Forderung, die Modelle „besser“ zu machen, mehr Parameter zu integrieren, mehr Faktoren. Daraus spricht die Hoffnung, dass die exakte Berechenbarkeit doch etwas Erreichbares ist, wenn man sich nur etwas anstrengt. Dass man die Statistik, die Unwägbarkeiten, hinter sich lassen und Sicherheit erlangen kann — denn wer wollte schon auf der Grundlage unsicherer Aussagen Entscheidungen treffen?
Man kann versuchen, das Eingeständnis, dass das Studium komplexer Systeme kaum mehr klassische Sicherheiten produzieren kann, als eine Bankrotterklärung zu verkaufen. Man kann sich weigern, wissenschaftliche Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, solange die Wissenschaft „nicht zweifellos nachgewiesen hat“, dass irgendetwas der Fall ist. Die produktivere Haltung ist, anzuerkennen, dass aus unserem modernen Verständnis unserer komplexen Welt auch ein veränderter Umgang mit wissenschaftlichen Resultaten folgt. Und das ist der Punkt, an dem der dieser Tage viel beschworene Unterschied zwischen Szenarien und Vorhersagen zum Tragen kommt.
In einem Raum möglicher Zukünfte
Wenn wir in Situationen Entscheidungen treffen müssen, die von Unsicherheiten und unvollständigem Wissen geprägt sind, ist es meist keine Option, einfach abzuwarten, bis man mehr weiß. Das gilt für akute Katastrophenfälle wie Aktiengeschäfte. Stattdessen ersetzt man sein Unwissen durch Annahmen und durchdenkt, was daraus folgen würde. Was würde passieren, wenn sich alles zu den eigenen Gunsten verhält? Was wäre das Schlimmste, das eintreten kann? Dann: Welches Risiko bin ich einzugehen bereit? Kurz, man versammelt Szenarien und sucht dann nach einer robusten Strategie, die in möglichst vielen der wahrscheinlichen Fälle zu einem akzeptablen Ergebnis führt. Für dieses Vorgehen braucht es keine Prognosen und Vorhersagen. Man operiert in einem Raum möglicher Zukünfte. Es ist fast überflüssig festzustellen, dass dabei alles unternommen wird, um das Eintreten eines Worst-Case-Szenarios zu verhindern.
Wer nun Kritik an politischen Entscheidungen üben will, kann das konstruktiv an dieser Stelle tun. Er kann etwa beklagen, dass er selbst unter einem akzeptablen Ergebnis etwas anderes verstanden hätte als die Regierung. Oder dass Entscheidungsprozesse zu wenig transparent gemacht wurden. Die Kritik aber, dass bestimmte singuläre Modellvorhersagen nicht eingetreten seien, oder allgemein: dass Entscheidungen in einer Situation von Unsicherheit getroffen wurden, hilft hier in ihrer methodischen Uninformiertheit nicht weiter, sondern erhöht – ob fahrlässig oder bewusst – nur das ohnehin hohe Level diffuser öffentlicher Unzufriedenheit.
Das gilt genauso für die grundsätzlich sehr berechtigte Kritik an der nach wie vor oft unbefriedigenden empirischen Datenlage. Wenn solch eine Kritik, wie sie etwa in der vergangenen Woche publikumswirksam von prominenten Autoren an den Daten des DIVI-Intensivregisters vorgetragen wurde, selbst vor statistischen Unsauberkeiten und Fehlern strotzt, ist wenig gewonnen. Stattdessen wird der Eindruck erzeugt, dass zugunsten persönlicher Eitelkeiten die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft öffentlich untergraben wird. Wie brandgefährlich das ist, zeigt aber eine aktuelle Studie aus Kanada. Demnach spielt Antiintellektualismus eine wichtige Rolle in der Reaktion der Öffentlichkeit auf die Pandemie. Diesen nicht weiter zu füttern sollte uns allen auch in Hinblick auf künftige Krisen am Herzen liegen.
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