Zu seinem 150. Geburtstag ist Thomas Manns Werk aktueller denn je

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Thomas Manns Wahrnehmung im Nachkriegs-Deutschland ist eng verbunden mit dieser Zeitung. Im Guten wie im Schlechten. Noch zu Manns Lebzeiten, aus Anlass seines fünfundsiebzigsten Geburtstags, widmete die F.A.Z. dem Literaturnobelpreisträger am 6. Juni 1950 eine von einem Schriftstellerkollegen verfasste vergiftete Gratulation: Mann sei „Exponent einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland“. Gut, wer weiß schon, wer Gerhard Nebel war? Aber auch der F.A.Z.-Herausgeber Joachim Fest erklärte Thomas Mann zusammen mit seinem Bruder Heinrich zu „unwissenden Magiern“ – das war noch 1985.
Dabei schien der hundertste Geburtstag doch alles geändert zu haben. Marcel Reich-Ranicki, der Literaturchef dieser Zeitung, hatte 1975 Schriftsteller um Auskunft dazu gebeten, was ihnen Thomas Mann bedeute und was sie ihm verdankten. Daraus entstand eine ganze Beilage – Wiedergutmachung der 25 Jahre zuvor im selben Blatt ausgesprochenen Herabwürdigung. Mit diesem Artikelkonvolut fand das Werk hierzulande neue Beachtung, die seither nicht mehr abgerissen ist. Thomas Mann gilt heute neben Kafka als der wichtigste deutschsprachige Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts.
Auch in Amerika wurde ihm ein Bleiben unmöglich
Als zum Jahresbeginn 2025 sein ehemaliges, mittlerweile zum Residenzhaus umgebautes Wohngebäude im kalifornischen Pacific Palisades, „das Weiße Haus des Exils“, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier es bei der Übernahme durch die Bundesrepublik genannt hat, von den verheerenden Feuern rund um Los Angeles bedroht und sein Schicksal tagelang unklar war, weil niemand mehr ins Gefahrengebiet vorgelassen wurde, spürte man die Intensität der Identifikation in Deutschland mit dem Erbe Thomas Manns. Das Haus blieb verschont, und just heute, nicht zufällig am 150. Geburtstag seines ersten Bewohners, wird es wieder geöffnet. Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk.

Andere resultieren aus der Flut an neuen Publikationen über Leben und Werk, bei denen immer stärker das politische Engagement von Thomas Mann im Fokus steht. In Zeiten eines höchst angespannten Verhältnisses zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten bietet die Erinnerung an einen Exponenten deutscher Kultur, der in den USA Zuflucht und eine neue Heimat fand, sowohl eine Leitschnur bezüglich des heute notwendigen Verhaltens angesichts von staatlicher Willkür als auch eine Mahnung zur Zurückhaltung bei allzu rascher Gleichsetzung eines totalitären Systems mit einer zwar taumelnden, aber noch existierenden Demokratie. Wobei auch daran erinnert werden muss, dass Thomas Mann zweimal ins Exil ging: noch einmal nämlich 1952, als er, der seit 1944 amerikanischer Staatsbürger war, der neuen Heimat wieder den Rücken kehrte, weil ihm die Verdächtigungs-Perfidie des McCarthyismus ein Bleiben unmöglich machte.
Ein Kompass für die nächsten 150 Jahre
Werke wie die „Joseph“-Tetralogie, „Mario und der Zauberer“, „Der Zauberberg“ und allen voran „Doktor Faustus“ bieten literarischen Anschauungsunterricht zu den Gefahren individueller politischer Verführbarkeit, vor allem aber kollektiver. Den Irrationalismus identifizierte Thomas Mann als Auslöser der deutschen Verbrechen, und das verziehen ihm viele hierzulande nicht. In seinen genuin politischen (und deshalb gegen besseres Wissen optimistischer gehaltenen) Stellungnahmen war er nach 1918 zum wortmächtigen Verteidiger der Republik geworden, aber seine Romane erzählten weiter Verfallsgeschichten. Ihre gefeierte Ironie und Eleganz machen die Lektüre des Pessimismus von Thomas Mann für ein breites Publikum erst möglich.
Manche nachgeborenen Autoren sahen ihn zu tief im neunzehnten Jahrhundert verwurzelt, als dass sie ihn noch hätten akzeptieren wollen. Reich-Ranicki schrieb einem prominenten Beiträger zu seiner Jubiläumsbeilage von 1975, der mit Thomas Mann nach wie vor nichts anzufangen wusste: „Ich finde jeden Satz, ja jedes Wort in Ihrem Manuskript ganz und gar falsch. Aber ich habe Ihre Äußerungen mit großem Vergnügen gelesen, und wir werden sie gern und mit Vergnügen publizieren.“ Solche Art von souveränem Umgang miteinander trotz abweichender Meinungen wünscht man sich heute mehr denn je.
Auch dazu lese man Thomas Mann. Nicht, weil er übermäßig tolerant gewesen wäre – das war Reich-Ranicki auch nicht –, sondern weil er Freude am intellektuellen Austausch hatte und diese mit seinem Schreiben vermittelt. Und mit seinem Handeln, das nicht zuletzt auch eines im Zeichen von Extremen war, zwischen denen Mann jeweils Balance zu wahren suchte, wie er in seiner Lebensbilanz „Meine Zeit“ 1950 festhielt. Deshalb haben wir in ihm einen, auf den wir zwar ideologisch nicht bauen können, aber dessen politische Hell-, Ein- und Rücksicht zum Kompass für die nächsten 150 Jahre taugen.
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