Wissenschaft

Älteste Holzspeere der Welt neu datiert

Die Holzspeere und Wurfstöcke aus Schöningen in Niedersachsen gelten als die ältesten hölzernen Jagdwaffen der Welt. Ihre Fundschicht wurde auf ein Alter von rund 300.000 Jahren datiert. Doch nun legt eine Neudatierung nahe, dass die berühmten Speere 100.000 Jahre jünger sind. Sollte sich dies bestätigen, hätte dies auch weitreichende Folgen für ihren Kontext und die Annahmen zu ihren steinzeitlichen Erschaffern. Denn bisher galten die Speere als Werk des Homo heidelbergensis oder eines anderen Vorgängers der Neandertaler. Sind die Holzwaffen aber nur 200.000 Jahre alt, müssten sie von Neandertalern stammen. Dies wirft ein ganz neues Licht auf die Jagdtechniken und Waffen der europäischen Frühmenschen. Allerdings ist die Neudatierung nicht unumstritten – und auch sie hat nicht die Speere selbst datiert, sondern nur das umgebende Sediment.

Der ehemalige Braunkohletagebau von Schöningen im westlichen Harzvorland ist eine der wichtigsten Fundstätten frühmenschlicher Aktivität in Europa. Archäologen haben dort bis zu 300.000 Jahre alte Lagerstätten, mehr als 1500 Steinabschläge und Werkzeuge sowie die Knochen zahlreicher erlegter Tiere, darunter 50 Wildpferden entdeckt. Alter und einige kürzlich entdeckte Fußspuren legen nahe, dass diese urzeitlichen Jagdlager vom Homo heidelbergensis stammen – dem mutmaßlichen Bindeglied zwischen dem Homo erectus und dem Neandertaler. Am berühmtesten ist Schöningen aber für die Funde hölzerner Jagdwaffen aus dieser Zeit. Das Arsenal umfasst neun Holzspeere, eine Lanze und sechs beiderseits angespitzte Wurfstöcke. Die Waffen zusammen mit den Relikten der erlegten Tiere legen nahe, dass die Frühmenschen damals gezielt Tiere jagten, die sich am Ufer des dort einst existierenden Sees aufhielten. „Nirgendwo sonst sind solche Jagden so gut und in so ungestörtem Kontext erhalten wie in diesen Fundschichten aus dem mittleren Pleistozän“, erklären Jarod Hutson vom MONREPOS – Leibniz Zentrum für Archäologie in Neuwied und seine Kollegen. „Diese Stätte dient seither als Marker-Horizont für die Entwicklung der prämodernen menschlichen Jagdfähigkeiten.“

Neudatierung über fossile Aminosäuren

Doch die Holzspeere selbst und ihre Fundschicht konnten bisher nie direkt datiert werden. „Stattdessen beruhen die Altersabschätzungen für die Speere auf einer allgemeinen Korrelation der stratigraphischen Abfolge mit globalen paläoklimatologischen Daten sowie einer Kreuzdatierung anderer Fossilniveaus innerhalb des Schöninger Tagebaukomplexes“, erklären die Archäologen. Konkret bedeutet dies: Indem Forschende die Schichten über und unter der Speerschicht datierten, grenzten sie das Alter der Holzwaffen ein. Allerdings musste die ursprüngliche Datierung schon einmal von 400.000 auf 300.000 Jahren korrigiert werden. Aber auch mit diesem Alter sei Schöningen ein Ausreißer unter vergleichbaren Funden gewesen. Das Team um Hutson hat nun das Alter des Schöninger Speerhorizonts mit einer neuen Datierungsmethode überprüft.

Für ihre Datierung nutzte das Team fossile Pferdezähne, Muschelkrebsschalen und die Verschlusskapseln von kleinen Süßwasserschnecken aus Sedimentblöcken der Speer-Fundschicht. Sie analysierten dann die in diesen organischen Relikten enthaltenen Aminosäuren auf ihre Händigkeit – die Symmetrie der Moleküle. „In lebenden Organismen bestehen Proteine ausschließlich aus Aminosäuren der linksdrehenden Form“, erklären Hutson und seine Kollegen. „Nach dem Tod erfolgt jedoch eine spontane Razemisierungsreaktion.“ Das bedeutet, dass einige der Aminosäuren im Laufe des Proteinzerfalls ihre Händigkeit verändern, bis schließlich ein Gleichgewicht von rechts- und linkshändigen Molekülen vorliegt. Da das Tempo dieser Razemisierung bekannt ist und sich mit Fossilfunden aus anderen Stätten abgleichen lässt, verrät der Anteil rechtsdrehender Aminosäuren in einer Probe, wie alt sie ist.

Neandertaler statt Homo heidelbergensis

Die Neudatierung ergab, dass die Holzspeere von Schöningen jünger sein müssen als bisher angenommen. „Zusammen mit einer Neubewertung der regionalen mittelpleistozänen Chronostratigrafie, platzieren unsere Daten die Schöningen-Speere in der Zeit vor rund 200.000 Jahren“, schreiben die Archäologen. Damit wären die Holzwaffen und die von den Frühmenschen erlegten Wildpferde rund 100.000 Jahre jünger als bislang angenommen. „Diese Datierung mindert aber nicht die Bedeutung dieser Fundstätte – die archäologische Signifikanz des Speerhorizonts und der mit ihm assoziierten Verhaltensweisen bleiben unverändert“, betonen Hutson und sein Team. „Der Speerhorizont liefert eindeutige Belege für die Nutzung des Schöninger Seeufers als Jagdgebiet für Treibjagden, bei denen ganze Familienherden von Pferden gezielt gejagt, getötet und geschlachtet wurden.“ Um bei solchen Jagden erfolgreich zu sein, mussten die Frühmenschen ihr Handeln gut koordinieren und als Gruppe eng zusammenarbeiten. Die Funde von Schöningen dokumentieren dies auf einzigartige Weise – auch nach ihrer Neudatierung, wie die Archäologen erklären.

Ein entscheidender Aspekt der Schöninger Funde ändert sich durch die neue Datierung aber schon: die Erschaffer der hölzernen Jagdwaffen. Denn wenn die Holzspeere erst 200.000 Jahre alt sind, wurden sie höchstwahrscheinlich nicht vom Homo heidelbergensis hergestellt, sondern von seinem Nachfolger, dem Neandertaler. „Unsere Datierung bringt die Schöningen-Speere in die Zeit der europäischen Neandertaler“, schreiben Hutson und seine Kollegen. Dazu passt, dass archäologische Zeugnisse auch in anderen europäischen Fundstätten nahelegen, dass sich solche gemeinschaftlichen Jagden etwa um die Zeit vor rund 200.000 Jahren bei den Neandertalern etablierten. „Unser revidiertes Alter bringt die Schöninger Funde in eine Linie mit anderen Belegen aus dieser Zeitperiode, die von einer zunehmenden sozialen Komplexität des Neandertalerverhaltens zeugen“, so das Team.

Noch ist allerdings strittig, wie verlässlich die neue Datierung ist. Denn das von Hutson und seinen Kollegen verwendete Analyseverfahren ist relativ neu. Zudem hängen die über die Händigkeit der Aminosäuren ermittelten Altersangaben stark von den Temperaturen ab, die die Fossilien seit ihrer Ablagerung erlebt haben. Je weniger gut belegt die Klimaentwicklung des Fundorts und der zum Vergleich herangezogenen Proben von anderen Orten ist, desto ungenauer wird das Verfahren. Der Sedimentologe und Datierungsexperte Tobias Lauer von der Universität Tübingen kommentiert daher gegenüber Science: „Ich halte den hier präsentierten Datensatz für robust. Ich bin mir aber sicher, dass das noch nicht das letzte Wort ist. Dieses Resultat wird mutmaßlich nicht von allen Fachleuten akzeptiert werden.“

Quelle: Jarod Hutson (MONREPOS – Leibniz Zentrum für Archäologie, Neuwied) et al., Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.adv0752)

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Wissenschaft kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!