Wissenschaft

#„After Woke“ – eine Rezension in sieben Zeilen – Gesundheits-Check

Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 hat vielfältige Parteinahmen provoziert, manche auch einfältig, und manchmal hochgradig irritierend. Wie kommen beispielsweise Menschen, die sich ein Leben lang für Frauenrechte, gegen die Todesstrafe, für die Demokratie usw. eingesetzt haben, plötzlich dazu, Vergewaltigungen und brutalste Morde eines organisierten Mobs als Akt einer „Befreiungsbewegung“ zu verteidigen?

Jens Balzer, Wikipedia zufolge „Journalist, Musikkritiker, Comicszenarist und Sachbuchautor“, hat dazu bei Matthes & Seitz einen Essay „After Woke“ veröffentlicht, 105 Seiten für 12 Euro. Dazu hier wieder eine 7-Zeilen-Rezension (korrekterweise eine „7-Absätze-Rezension“, aber …):

Der Anlass

Jens Balzer formuliert seine Erschütterung durch das Massaker der Hamas, er spricht von einem „Zivilisationsbruch“ (S. 8) und bringt sein Unverständnis über viele Reaktionen im postkolonialen, queerfeministischen, „woken“ Milieu zum Ausdruck. Er zitiert dazu Äußerungen, die den Überfall der Hamas enthusiastisch begrüßen.

Die Diagnose

Die Gefühllosigkeit dieser „woken“ Stimmen sei verstörend und man könne „den Umgang der ‚woken‘, postkolonialen, queerfeministischen Linken mit dem Terrorangriff der Hamas kaum anders bezeichnen denn als moralischen Bankrott; es ist ein Bankrott, der die politische Integrität dieser Linken ebenso infrage stellt wie die Legitimität, mit der sie zuvor – in oftmals hohen moralischen Ton – rassistische, homophobe, misogyne Diskriminierungen kritisiert hat.“ (S. 15)

Die Vernunft des „Woken“

Die kritisierten Positionen sieht Balzer als diametral entgegengesetzt gegenüber dem ursprünglichen „woken“ Anliegen, nämlich sensibel gegen jedwede Diskriminierung zu sein. Dazu rekonstruiert er kurz die Geschichte des Begriffs „woke“, ausgehend von einer rassistischen Anklage 1931 gegen neun schwarze Jugendliche, die zwei Frauen vergewaltigt haben sollen und von denen acht zum Tode verurteilt wurden, ohne Beweise für ihre Schuld (S. 23 ff). „Stay woke“ habe auch dafür gestanden, darauf zu achten, was dem eigenen Verständnis widerspricht, sich zu hinterfragen, sich weiterzuentwickeln (S. 29). Balzer bringt das ursprüngliche Anliegen von „stay woke“ mit Habermas‘ Diskursethik in Verbindung (S. 30).

Woke-Kritik von der falschen Seite

Balzer verwehrt sich gegen rechte Rechthaberei, die sich nun darin bestätigt sieht, dass die „Woken“ schon immer verlogen waren und nur am eigenen Vorteil interessiert, und jetzt die konservative Weltsicht wieder in ihr Recht gesetzt sei (S. 33). Dieser Kritik gehe es gerade nicht darum, überkommene Ansichten zu hinterfragen, in Bewegung zu bleiben und so im Gespräch mit anderen die liberale Demokratie zu stützen.

Linker Antisemitismus

Der linke, queerfeministische und postkoloniale Antisemitismus gehe auf eine Zuordnung von Juden (und Jüdinnen) zu westlichen weißen Kolonisatoren und der Aufkündigung der Solidarität mit Juden als diskriminierter Gruppe zurück, sichtbar in Veränderungen der Positionen in der Black lives matter-Bewegung wie auch bei eigentlich antiessentialistischen Feministinnen wie Judith Butler. Es sei ein „Wahrheitsregime“ mit Priester:innen der Wahrheit auf der einen Seite und Sünder:innen auf der anderen entstanden (S. 51 ff).

After Woke

Nach Balzer kann die queerfeministische und postkoloniale Linke ihre moralische Legitimität nur zurückgewinnen, wenn sie wieder an den Ursprung des „woken“ Anliegens anknüpft. Nur so könne sie „wieder zu einem dringend benötigten (utopischen) Gegenentwurf werden zu den reaktionären Kräften des identitären Denkens, die sich gerade anschicken, die Herrschaft über die Welt zu übernehmen.“ (S. 90)

Fazit

Balzers Essay ist sehr klar in der Verurteilung von Rechtfertigungen für das Hamas-Massaker im linken politischen Spektrum und in der Forderung nach einer moralischen und politischen Neubesinnung in der „woken“ Szene. In dieser Fokussierung geht er nicht auf die falsche israelische Politik ein, die die Hamas erst stark gemacht, nachvollziehbar, das dazu Nötige kann man z.B. in Moshe Zimmermanns instruktivem Buch „Niemals Frieden?“ nachlesen. Ob allerdings ein Appell zur Neubesinnung in einer Wagenburg von selbstgerechten Wahrheitsbesitzern (und -besitzerinnen, natürlich) mit festem Feindbild Gehör findet? Balzer vergleicht die Äußerungen der „woken“ Hamasverteidiger mit der Dehumanisierungsrhetorik Ulrike Meinhofs (S. 10) – Appelle zum Innehalten haben bekanntlich bei der RAF nichts bewirkt. In das eigene Selbstverständnis eingewachsene Überzeugungen sind recht argumentationsresistent. Lesen? Lesen!

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