Nachrichten

#Wovon Verteidiger des Imperiums träumen

Wovon Verteidiger des Imperiums träumen

Über mehr als zehn Jahre ist der Fotograf Stefan Neubauer nach dem Abzug der russischen Streitkräfte durch die östlichen Bundesländer gereist und hat in mehr als sechzig verlassenen Kasernenanlagen vor allem die Interieurs aufgenommen. Nachdem er anfangs noch kein Gespür hatte für die Bildkraft der grandiosen Ruinen mit ihren verwitterten Wandgemälden, wie er selbst eingesteht, schlugen ihn die leeren Festsäle, Sporthallen, Theaterbühnen mit ihren Resten von sowjetpatriotischem Dekor, aber auch soldatischer Amateurerotik mit der Zeit immer mehr in den Bann.

Die ehemaligen Militärbasen, von der DDR-Bevölkerung abgeschirmt und bis zuletzt im Rahmen des Warschauer Pakts dem Moskauer Oberkommando unterstellt, gehörten zum tragenden Skelett des deutschen Teilstaats – und sind somit ein Teil der russisch-deutschen Geschichte, das aber im kollektiven Gedächtnis der Republik keinen Platz erhalten hat. Um Gerechtigkeit herzustellen und vieles, was inzwischen verloren ging, wenigstens zu dokumentieren, hat Neubauer aus seinem reichen Schatz einen voluminösen Bildband mit dem Titel „Kulturerbe“ bestückt, der mit einer Standortkarte und instruktiven Kurztexten von Andreas Hilger, Christoph Meissner und Tanja Zimmermann ergänzt wurde – in sowohl deutscher, russischer als auch englischer Sprache, wie es einem Kulturvermittlungswerk ge­bührt.

Stefan Neubauer: „Kulturerbe“. Mit Beiträgen von Andreas Hilger, Christoph Meissner und Tanja Zimmermann.


Stefan Neubauer: „Kulturerbe“. Mit Beiträgen von Andreas Hilger, Christoph Meissner und Tanja Zimmermann.
:


Bild: Könemann Verlag

Die Bilder von zumeist stark ramponierten, vielfach noch in preußischer Zeit errichteten und teils inzwischen abgerissenen Großbauten veranschaulichen zu­nächst einmal den Umfang der in Ostdeutschland stationierten Sowjettruppen, mit 350.000 bis 600.000 Mann das größte Kontingent außerhalb der So­wjetunion. Zum Zeitpunkt seiner Auflösung besaß der Sowjetstaat in Ostdeutschland 36.000 Gebäude, es gab acht­hundert Militärstädtchen, die die DDR zu unterhalten hatte, 243.000 Hektar, die Fläche des Saarlandes, waren mi­litärisches Sperrgebiet. Diese Heeres­grup­pe war die schlagkräftigste der Sowjetarmee, sie hatte die NATO, seit 1959 auch mit Nuklearwaffen, abzuschrecken. Ihre Verbände schlugen 1953 den Aufstand in der DDR nieder, und 1968 beteiligten sie sich am Einmarsch in die Tschechoslowakei, der den Prager Frühling beendete.

Neubauers monumental-elegische Bildersammlung vermittelt eine Ahnung vom kulturellen Gepäck der Kämpfer. Doppelseitige Aufnahmen mit der Panoramakamera vergegenwärtigen Wandmalereien im Stil des Sozialistischen Realismus mit einem zuversichtlich ins Weite schauenden Lenin, un­erschrockenen Kosmonauten, Athleten so­wie Panzern, Raketen und heroischen Soldaten, die all dies bewachen. Dass sich die recht schablonenhaft verfertigten Bildwerke im Zu­stand der Verwahrlosung und physischen Auflösung befinden, verleiht ihnen fast so etwas wie antikische Grandezza.

Ein Wandbild in der Kaserne Forst Zinna in Brandenburg zeigt verschiedene Motive der russischen Geschichte


Ein Wandbild in der Kaserne Forst Zinna in Brandenburg zeigt verschiedene Motive der russischen Geschichte
:


Bild: Könemann Verlag

Von herbem Reiz sind die Reliefbilder von Soldaten und Kampffliegern am verlassenen Flugplatz Rangsdorf oder des gleichsam im Gleichschritt in die Zukunft fliegenden Sportlerpaars an der ehemaligen Kaserne Kramp­nitz bei Berlin. Manch wertvolle Werke wie der revolutionsmythologische, mögli­cher­weise von den mexikanischen Mu­ralisten inspirierte Bilderzyklus in der psych­iatrischen Klinik Teupitz wurden bei Renovierungsarbeiten leider zerstört.

Um die Stimmung der Patienten aufzuhellen, wurden im Militärhospital von Jüterborg die Wände mit bunten Bildern des sowjetischen Comicarztes Doktor Aibolit (zu Deutsch „Doktor Aututweh“) nach dem legendären Kin­derpoem von Kornej Tschukowski geschmückt. Abblätternde Gemälde zeigen, wie der gütige weißbärtige Aibolit unter seinem Praxisbaum zahme, aber auch wilde Tiere therapiert, einer Bärin die verletzte Pranke verbindet und sogar in Afrika zum Einsatz kommt. Doch erst in der Sauna kam die sowjetrussische Soldatenseele zu sich selbst. An den Wänden früherer Schwitzbäder prangen freche Hobbygemälde von schlanken Badenixen, aber auch einer teufelsgeschwänzten Bacchantin, die sich zum fröhlich im heißen Kessel Badenden gesellt, sowie eines dösenden Nackedeis mit schäumendem Bierhumpen und versetzen in Träume von privaten Glücksmomenten.

Stefan Neubauer: „Kulturerbe“. Mit Beiträgen von Andreas Hilger, Christoph Meissner und Tanja Zimmermann. Könemann Verlag, Köln 2021. 420 S., Abb., geb., 29,95 Euro.

F.A.Z. Newsletter Literatur

Freitags um 16.00 Uhr

ANMELDEN

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!