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#Am Grund der Hölle

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Am Grund der Hölle

Den Mund erhob vom grausen Mahl der Sünder,
Abwischend an den Haaren ihn des Hauptes,
Das am Genick er übel zugerichtet.

La bocca sollevò dal fiero pasto
quel peccator, forbendola a’ capelli
del capo ch’elli avea di retro guasto.

(Inferno XXXIII, 1–3)

Wer diesen Text gelesen hat, wird ihn nicht mehr vergessen: Die Ugolino-Episode am Ende des Inferno gehört zum Erschreckendsten der an grausigen Episoden nicht armen Commedia. In ihr ist der Höllengrund in jeder Hinsicht (fast) erreicht. Sehr viel tiefer führt Dantes Höllenwanderung nicht mehr, gleich begegnet er Luzifer – einem Wesen mit drei Mäulern, das an drei Verrätern herumkaut. Was aber über Ugolino erzählt wird, ist noch schockierender, komplexer und berührender.

Wegen politischer Vergehen wird Ugolino vom Bischof Ruggieri mit seinen vier Söhnen im „Hungerturm“ von Pisa inhaftiert. Nach einiger Zeit der Haft veranlasst Ruggieri, dass die Gefangenen nichts mehr zu essen bekommen, die Situation eskaliert aufs Furchtbarste: Ugolino kann nichts tun, seine Söhne sterben vor ihm, er selbst erblindet, und als er verzweifelt zwischen den Leichen seiner Söhne umhertappt, „übermannte der Hunger mehr noch als der Schmerz“. Kannibalismus also ist der Grund von Dantes Hölle. Nicht jeder – Jorge Luis Borges zum Beispiel – wollte das wahrhaben. Die Frage „Hat er, oder hat er nicht?“ war die Gretchenfrage der Dante-Philologie. Aber die Rahmenhandlung lässt keinen Zweifel. Dante und sein Führer Vergil treffen in der Hölle aus Eis auf zwei Männer, die in einem Loch zusammengefroren sind. Der eine ist Ruggieri, der Mann hinter ihm Ugolino. Die Strafe: Aus Heißhunger, als würde er in ein Brot beißen, schlägt Ugolino seine Zähne immer wieder in Ruggieros Nacken.

Vorbild des Sturm und Drang

Die Szene ist eine raffinierte Reflexion über Strafe. Bestraft werden beide: Ugolino, weil er gezwungen wird, die ihn quälende kannibalische Handlung ewig zu wiederholen. Und Ruggiero, der bei lebendigem Leib aufgefressen wird, weil er Ugolinos Verrat mit einer exzessiven Strafe auch an dessen unschuldigen Kindern belegt hat. „Verrat“ ist im Dante’schen Sündenkosmos das Schlimmste. Schlimmer aber noch ist eine unangemessen harte, exzessive Strafe. Dante selbst gibt im Text einen Hinweis auf das Vorbild seiner Ugolino-Szene. Er hat sie in Anlehnung an die „Thebais“ des Statius – eines Vergil-Schülers, der an anderer Stelle in der Commedia selbst auftritt – geschrieben: Selbst schon sterbend, lässt der Feldherr Tydeus sich den Kopf dessen bringen, der ihm die tödliche Wunde zugefügt hat. „Rasend vor Freude und Zorn“ ergötzt er sich an den weiß werdenden Augen seines Mörders, beißt – die letzte Tat seines Lebens – in den Nacken dieses triefenden Schädels, den ihm niemand wegzunehmen vermag und bespritzt sich mit Blut und dem „feuchten Gehirn“.

Wie viel komplexer ist die Motivierung der Szene bei Dante! Aus dem exzessiven Overkill eines Soldaten im Tötungsrausch wird die quälende Gefühlslage eines Vaters, der kurz vor dem Verhungern das vielleicht Schlimmste getan hat, zu dem Menschen fähig sind. Es ist nicht auszumachen, was schwerer wiegt: Ugolinos Hass auf den, der ihm das angetan hat, oder auf sich selbst. 1768 dramatisierte Heinrich von Gerstenberg die Episode und leitete die eigentliche Dante-Rezeption in Deutschland ein. Ausgerechnet Ugolino – diese zum Leiden verdammte Figur ohne jede Handlungsoption, die sich so gar nicht in die gängigen Tragödienmodelle einpassen ließ – wurde zum Vorbild des Sturm und Drang, der sich für die emotionale Komplexität dieses Seelendramas begeisterte!

André Georgi ist Schriftsteller und besonders bekannt als Fernsehdrehbuchautor.

Alle bisherigen Folgen unserer Serie ufinden Sie unter www.faz.net/dante.

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