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#Bombenstimmung in der französischen Hauptstadt

„Bombenstimmung in der französischen Hauptstadt“

Dreihundert Meter entfernt von hier hat alles begonnen: in der Galérie de Paléontologie des Naturkundemuseums von Pa­ris, der berühmten Ausstellungshalle mit den Dinosaurierskeletten im Jardin des Plantes. Dort schlüpft am 4. November 1911 ein Pterodaktylus, mit dem das Chaos in die französische Hauptstadt einzieht. Mittendrin Adèle Blanc-Sec, eine Groschenromanautorin, die sich als private Ermittlerin auf die Suche nach dem Verantwort­lichen macht. Das ist nicht der unschuldige Flugsaurier, sondern eine Gruppe verrückter Wissenschaftler, deren Zahl im Laufe des dreizehn Jahre währenden Geschehens immer größer wird. Alles gehorcht den Gesetzen jener Fortsetzungsromane, die Adèle selbst schreibt. Das bedeutet: Verschwörungen, Übersinnliches, Monster. Worüber man eben gerne las im Paris am Ende der Belle Époque.

Und heute immer noch gerne liest: im zehnbändigen Comiczyklus „Adèle Blanc-Sec“, einer der prägenden Serien dieses Metiers. Zudem eine der immer noch wenigen, die eine Frau in den Mittelpunkt stellen, überdies eine, die allen Comic-Klischees widerspricht: keine strahlende Schönheit, keine amourösen Interessen, auch keine Empfindlichkeiten. Adéle steht ihren Mann und be­schämt damit alle Männer um sich. Als sie endlich alles auf­geklärt hat, im Mai 1924, einen Weltkrieg und tausend Verwicklungen später, steht sie wieder in der Galérie de Paléontologie, und alles ist gut; sie gewährt sogar einen ersten Kuss (einer Mumie). Doch in den Laboratorien des Jardin des Plantes bricht schon die nächste Bedrohung aus: einem Winz­wesen mit der wissenschaftlichen Be­zeichnung Milnesium Tardigradum.

Der große zeichnende Chronist von Paris

Dieser Name wird dem possierlichen Bärtierchen die Rolle als letzte Nemesis für Adèle verschafft haben. Denn der Autor ihrer Abenteuer heißt Jacques Tardi. Er ist mittlerweile 76 Jahre alt und eine lebende Legende. Sein Haus in der Nähe des Pariser Friedhofs Père-Lachaise verlässt der Comiczeichner so gut wie nie, doch an diesem Abend sitzt er im Jardin des Plantes, dessen Naturkundemuseum er so sehr liebt, dass er es zum Ausgangs- und Endpunkt jenes Comiczyklus gemacht hat, der jetzt nach 46 Jahren seinen Abschluss gefunden hat: mit dem Erscheinen des zehnten Albums über Adèle Blanc-Sec, „Le Bébé des Buttes-Chaumont“.

Zum Auftakt der Serie hatte Tardis Verlag Casterman am 4. Mai 1976 auf den Eiffelturm geladen, einen anderen prominenten Schauplatz des Comics, der viel mehr als seine verworrene Handlung die Stadt Paris zum Thema hat. Tardi gilt als der große zeichnende Chronist ihrer Ge­schichte seit der Kommune von 1871 (über die er einen vierbändigen Comic gemacht hat). Nun, zum Finale von Tardis Lebenswerk – wie sollte man „Adèle Blanc-Sec“ trotz Dutzenden weiterer Bücher anders nennen, nach fast einem halben Jahrhundert Arbeit? –, ging es zur Buchvorstellung in den Jardin des Plantes: ins Auditorium des Naturkundemuseums, das Amphithéâtre Verniquet, benannt nach dem Architekten, der es 1787 erbaut hat, dreihundert Meter vom Haupthaus entfernt, am Rande des Parks. Das Gebäude ist ein eher unbekanntes Stück Paris. Wie passend, dass wir es dank dem Comic kennenlernen, auch wenn es darin gar nicht vorkommt.

Ausschnitt aus Tardis „Le Bébé du Buttes-Chaumont“, darin ein Gespräch von Adèle mit ihrer ägyptischen Mumie


Ausschnitt aus Tardis „Le Bébé du Buttes-Chaumont“, darin ein Gespräch von Adèle mit ihrer ägyptischen Mumie
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Bild: Abb. a. d. bspr. B.

Tardi hat Dominique Grange dabei, seine Frau, ihrerseits als Sängerin eine Legende der Achtundsechziger-Protestbewegung (auch über die hat Tardi einen Comic gezeichnet: „Elise“), und zum Auftritt des Paars im vollbesetzten Amphitheater erklingt ein von der mittlerweile Zweiundachtzigjährigen neu eingespieltes Lied. „Immortelle Adéle“ heißt es, doch dazu wird eine Zeichnung von Tardi projiziert, auf der zu lesen ist: „Warten Sie nicht auf Fortsetzung. Es gibt keine.“ Noch jeder bisherige Band hatte offen geendet und die Klärung aller Fragen durch den jeweils nächsten angekündigt. Diesmal aber steht da tatsächlich „Fin“ und eine explizite Warnung an alle „Fälscher“, die verführt sein könnten, die Serie wiederaufzunehmen. Tardi spottet denn auch über solche Beispiele wie „Blake und Mortimer“ oder „Spirou“, die von jungen Autoren fortgeführt werden: Es sei doch so viel reizvoller, sich etwas Eigenes einfallen zu lassen.

Die Handlung zu „Adèle“ war 46 Jahre lang Resultat spontaner Einfälle; selbst die genretypischen Titel der jüngeren Alben („Der Ertrunkene mit den zwei Köpfen“, „Das Geheimnis der Tiefe“ oder „Das teuflische Labyrinth“) verdankten sich einer Wahl, die Tardi seinen Kindern überlassen hatte, denen er Ende der Achtzigerjahre eine Liste mit Optionen vorgelegt hatte. Seitdem arbeitete er deren Favoriten ab.

Warum es sechsundvierzig Jahre gedauert hat

Im Amphitheater ist zu erfahren, warum es diesmal so lange gedauert hat. Erst kam Tardi die Lebensgeschichte seines Vaters dazwischen, die er unbedingt erzählen wollte (für die drei Bände „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B“ bekam er unter anderem die bedeutendste Auszeichnung für historische Biographik zugesprochen, den Einhard-Preis der Stadt Seligenstadt), dann bremste ihn die Pandemie aus. Aber nicht durch Isolation, denn die liebt er ja, sondern durch das im neunten Band vorbereitete Thema einer mutwilligen Seuchenausbreitung – Tardi wollte nicht einmal als fiktiver Verschwörungstheoretiker erscheinen. Auch die islamistischen Attentate von 2015 machten ihn nachdenklich, denn es galt noch, sechs geklonte lebende Bomben in seinem Abschlussband detonieren zu lassen. Nun schien ihm der Abstand groß genug. Und so gibt es reichlich Knalleffekte in „Le Bébé de Buttes-Chaumont“.

Wie verträgt sich das und die wilde Phantasie des Ganzen mit dem soignierten Herrn unten auf der Bühne? Tardi mag milde wirken, aber er ist überzeugter Anarchist. Die Auszeichnung mit der Ehrenlegion hat er höhnisch abgelehnt, er engagiert sich für die Linke. Und wenn er Chaos im bürgerlichen Paris stiften kann, tut er es gerne – wenn auch nur auf dem Papier. Aber das ist für einen Comiczeichner der Stoff, aus dem die Träume sind.

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