Wissenschaft

#Energiereichstes kosmisches Neutrino detektiert

Neutrinos sind fast masselos und interagieren kaum mit Materie – entsprechend schwer sind sie zu detektieren. Jetzt haben Physiker die Spur eines dieser Elementarteilchen eingefangen, das so energiereich war wie nie zuvor gemessen. Das kosmische Neutrino hatte eine Energie von 220 Petaelektronenvolt – dies entspricht dem 22-Billiardenfachen der Energie eines Elektrons. Detektiert wurde das extrem energiereiche kosmische Neutrino von dem erst im Bau befindlichen Neutrino-Observatorium Kilometre Cube Neutrino Telescope (KM3NeT) am Grund des Mittelmeeres. Dieses fing das schwache Leuchten ein, das die Interaktion des Neutrinos mit Materie und das dabei entstehende Sekundärteilchen erzeugten. Woher dieses kosmische Neutrino kam und durch welchen Prozess es erzeugt wurde, ist noch unklar. Als Kandidaten kommen aber einige der energiereichsten Ereignisse im Kosmos in Frage.

Ob aktive supermassereiche Schwarze Löcher in Galaxien, Supernova-Explosionen oder Gammastrahlenausbrüche: Sie alle setzten große Energien frei und können wie kosmische Teilchenbeschleuniger wirken. Durch sie entstehen extrem schnelle, energiereiche Teilchen, die einen Teil der kosmischen Strahlung ausmachen. Woher dieser jedoch stammt und welche Ereignisse diesen energiereichsten Anteil der kosmischen Partikel verursachen, ist bisher weitgehend ungeklärt. Einer der Gründe dafür: Geladene Teilchen werden auf ihrem Weg durch den Kosmos immer wieder durch Magnetfelder abgelenkt, so dass sie sich nicht zu ihrem Ursprung zurückverfolgen lassen. Anders ist dies jedoch mit kosmischen Neutrinos: Diese Teilchen sind nahezu masselos, ungeladen und wechselwirken nur wenig mit Materie, gleichzeitig entstehen auch sie bei einigen der energiereichsten Ereignisse im Kosmos. „Neutrinos sind besondere kosmische Boten, die uns einzigartige Informationen über die Mechanismen der energiereichsten Phänomene liefern und es uns ermöglichen, die äußersten Bereiche des Universums zu erforschen“, erklärt Rosa Coniglione vom INFN, dem Nationalen Institut für Kernphysik in Italien.

Neutrino-Detektoren am Grund des Mittelmeeres

Kosmische Neutrinos zu erfassen, ist jedoch alles andere als einfach, weil diese Elementarteilchen kaum mit anderer Materie interagieren. Nachweisen lassen sich die seltenen Fälle der Kollision eines Neutrinos mit einem Atom durch die dabei erzeugten Sekundärteilchen, darunter Myonen. Diese Teilchen setzen bei Interaktion mit Materie Energie in Form winziger Lichtblitze frei, die von speziellen Photodetektoren aufgefangen werden können. “Um die Passage dieser geladenen Teilchen zu detektieren, die in oder nahe dem Detektor durch Neutrino-Interaktionen entstehen, nutzen Neutrino-Observatorien sehr große Volumen von Wasser oder Eis”, erklärt die KM3NeT-Kollaboration, die Forschungsinitiative hinter dem Kilometre Cube Neutrino Telescope (KM3NeT). Die Herausforderung ist es dabei, die wenigen kosmischen, sehr energiereichen Neutrino-Signale von denen der weit zahlreicheren atmosphärischen Neutrinos zu unterscheiden.

Die energiereichsten kosmischen Neutrino-Signale wurden bisher vom IceCube-Neutrinodetektor am Südpol eingefangen, der dafür mehr als 5000 kugelförmige, im Eis versenkte Photodetektoren nutzt. Unter den Funden waren ein Antineutrino mit 6,5 Petaelektronenvolt und ein Neutrino mit 10 Petaelektronenvolt – dies entspricht dem Zehn-Billiardenfachen der Energie eines Elektrons. Doch jetzt haben Astrophysiker ein noch weit stärkeres Neutrino-Signal detektiert. Dieses zeigte sich in einem der beiden Detektorfelder des noch im Bau befindlichen KM3NeT-Neutrinodetektors am Grund des Mittelmeers. Diese nutzen kugelförmige, am Meeresboden verankerte Photodetektoren, um das schwache bläuliche Tscherenkowlicht der durch die Neutrinos erzeugten sekundären Teilchen aufzufangen. Das Messfeld ARCA liegt vor der Küste Siziliens in rund 3450 Meter Tiefe und wird im fertigen Zustand 230 jeweils rund 100 Meter voneinander entfernte Detektoreinheiten umfassen. Jede von ihnen besteht aus Photodetektoren, die an hunderte Meter langen Leinen übereinander angeordnet sind. Das zweite Messfeld, ORCA, liegt in 2450 Meter Tiefe vor der Küste Südfrankreichs und wird 115 Detektoreinheiten im Abstand von jeweils 20 Meter umfassen.

Myonenspur verrät ultra-energiereiches Neutrino

Das aktuelle Neutrino-Signal wurde am 13. Februar 2023 von den Detektoren des erst zu zehn Prozent fertiggestellten ARCA-Messfelds registriert. Dabei raste ein energiereiches Myon fast waagegerecht durch das Detektorfeld und erzeugte ein so starkes Tscherenkow-Licht, dass die nächstgelegenen Photodetektoren übersättigten, wie die Physiker der KM3NeT-Kollaboration berichten. Nähere Analysen ergaben, dass dieses Myon eine Energie von 120 Petaelektronenvolt aufwies – ein neuer Rekord. “Angesichts seiner enormen Energie und fast horizontalen Richtung muss dieses Myon durch die Materie-Interaktion eines Neutrinos von noch höherer Energie in der Nähe des Detektors entstanden sein”, schreiben die Forschenden. Ihren Modellsimulationen zufolge muss das auslösende Neutrino eine Energie von 220 Petaelektronenvolt besessen haben – so viel wie noch niemals zuvor detektiert. “Mit dieser ersten Entdeckung eines Neutrinos mit hunderten Petaelektronenvolt beginnt ein neues Kapitel der Neutrino-Astronomie. Es eröffnet ein neues Beobachtungsfenster ins Universum”, sagt KM3NeT-Sprecher Paschal Coyle vom Zentrum für Teilchenphysik in Marseille.

Nach Angaben der Forschenden liefert der Nachweis des neuen Rekord-Neutrinos den ersten Beleg dafür, dass in der Natur tatsächlich Neutrinos so hoher Energien existieren. Woher dieses Teilchen jedoch stammte, ist noch unklar. Zwar konnten die Physiker den Himmelsbereich eingrenzen, aus dem das Neutrino stammt. Doch ein Abgleich mit potenziellen Urhebern wie Gammastrahlenausbrüchen, Supernovae oder aktiven Galaxienkernen erbrachte keine eindeutige räumliche Übereinstimmung. Auch bei der Suche nach Neutrinos mit geringeren Energien, die aus der gleichen Quelle stammen könnten, gab es kein eindeutiges Ergebnis. “Eine denkbare Alternative wäre aber auch eine kosmogenische Neutrinoproduktion, bei der Neutrinos durch die Interaktion kosmischer Strahlung mit extragalaktischem Hintergrundlicht oder dem kosmischen Mikrowellenhintergrund erzeugt werden”, erklärt das Team. Sollte sich letzteres bestätigte, dann wäre das KM3-230213A getaufte Ereignis der erste Nachweis eines solchen kosmogenen Neutrinos.

“Das Neutrino KM3-230213A ist eine bemerkenswerte Entdeckung, allein schon wegen seiner Energie, die mehr als zehnmal höher ist als die nächstniedrigeren, die IceCube und das Pierre-Auger-Observatorium in einem Jahrzehnt der Suche gefunden haben”, schreibt der nicht an der Studie beteiligte Physiker Erik Blaufuss von der University of Maryland in einem begleitenden Kommentar in “Nature”. Umso bemerkenswerter sei es, dass dieses Neutrino detektiert wurde, noch bevor das KM3NeT-Observatorium fertiggestellt wurde. “Auch wenn es noch Zeit brauchen wird, die Ursprünge dieses Ereignisses vollends zu ergründen, ist dies eine außergewöhnliche Willkommensbotschaft für KM3NeT”, so Blaufuss. Die Entdeckung weckt die Hoffnung, dass dieser Detektor am Grund des Mittelmeeres in naher Zukunft noch weitere kosmische Neutrinos dieser Art einfangen wird.

Quelle: KM3NeT Collaboration, Nature, doi: 10.1038/s41586-024-08543-1

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Wissenschaft kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!