Atelierbesuch beim Künstler Santiago Serra

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Beim Blick auf die Fassade könnte man den Neuen Berliner Kunstverein dieser Tage für ein Dentallabor halten, das mit etwas grimmigen Zahnreihen auf sich aufmerksam macht. Groß als Fries auf die Fensterscheiben appliziert, regen sie zur Spekulation an, wem sie wohl gehören, wie die Menschen situiert sind, die da, abgesehen von ihren geöffneten Mündern, gesichtslos bleiben. Seit Langem fotografiert Santiago Sierra Gebisse von Sinti und Roma in Neapel, von Migranten und Geflüchteten aus Tijuana oder dem Nahen Osten oder von anderen marginalisierten Gruppen dieser Welt.
Erkennbar hat sich den Zähnen eine gewisse Lebensdauer eingeschrieben, in den Schwarz-Weiß-Fotografien stehen sie für individuelle Biographien, die zugleich anonym bleiben; manche lassen auf Mangelerscheinungen schließen, andere sind relativ makellos, wenn auch nicht gebleicht, wie es in Mode gekommen ist. Sergio Edelsztein, Kurator der kleinen, markanten Präsentation, arbeitet seit rund fünfundzwanzig Jahren mit dem spanischen Aktionskünstler zusammen, angefangen mit Projekten in Tel Aviv. Die Zähne an der Fassade fasst er auch als Sinnbild für die Aggressionen in der Gesellschaft auf und sieht sich darin durch den Titel „Der Zeitgeist“ bestätigt.
Polke lehnte ihn ab, Walther war sein Vorbild
Sierras relevantes Werk beginnt 1990 in Deutschland, als er an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg studierte. Sigmar Polke, erzählt Sierra bei unserem Besuch in seiner Wohnung im Herzen Madrids, habe ihn damals nicht in seine Klasse aufnehmen wollen: kein Interesse an dem jungen Spanier. Imponiert hatte Sierra die Radikalität von Stanley Brouwn, einem anderen Hamburger Professor, der sein Werk aus Ortserkundungen nahezu ohne jegliche materielle Hinterlassenschaft bestritt. Mit Franz Erhard Walther, so Sierra, habe das Gespräch erst nach dem Studium richtig angefangen. Viel habe er sich mit Bernhard Johannes Blume ausgetauscht – „der war immer da, um Orte für Ausstellungen zu finden, er interessierte sich für einen“.
Der Name Sierras verbindet sich mit der hierzulande umstrittensten Kunstaktion der letzten Jahrzehnte, der Arbeit „245 m³“ in der ehemaligen Synagoge Stommeln bei Köln, benannt nach dem Volumen des Innenraums. Sierra hatte die seit Jahrzehnten nicht mehr als Bethaus genutzte Synagoge mit Abgasen aus laufenden Automotoren in den Straßen der kleinen Gemeinde gefüllt, auf dass die Besucher, mit einer Atemschutzmaske und in Begleitung eines Feuerwehrmanns, in den Raum hatten eintreten können. Am Tag nach der Eröffnung an jenem grauen Wintertag im Jahr 2006 wurde die Ausstellung unter massiven Protesten abgebrochen. Diese Arbeit, sagt Edelsztein dazu im Rückblick, „war sicherlich heftig und provokativ, niemand anderes konnte so etwas machen“. Sierra habe, keine Frage, einen „entflammbaren Nerv getroffen“, nicht aber einfach einen Skandal hervorrufen wollen, so das Mitglied der Findungskommission der kommenden Documenta 16: „Es ist wichtig, dass er das tut, so wie er es mit allen anderen Orten der Welt macht.“ Wie so viele Werke des Künstlers war auch diese hochkontrovers und bestimmt nicht zustimmungspflichtig. Aus eigener Erfahrung kann der Verfasser dieser Zeilen hingegen berichten, nie zuvor und nie danach eine ähnlich radikale, herausfordernde Intervention erlebt zu haben.

Frage an Sierra: Welche seiner Arbeiten empfand er als besonders umstritten? Ohne zu zögern, nennt er die Fotoserie „Politische Gefangene im gegenwärtigen Spanien“, darunter Aktivisten für die Unabhängigkeit Kataloniens, die 2018 bei der Madrider Kunstmesse Arco, unter wiederum lautstarkem Protest zahlreicher Galeristen, noch vor der Eröffnung abgehängt wurde. Ein klarer Fall von Zensur. In der Messehalle „tobte ein Sturm“, hieß es in dieser Zeitung. In die Annalen der Venedigbiennale hat er sich mit seinem Beitrag für den spanischen Pavillon von 2003 eingeschrieben. Sierra ließ ihn bis auf eine einsame Frau mit Büßerkappe leer und gewährte nur Publikum mit spanischem Ausweis den Zutritt. Hieß also: Passkontrolle am Eingang des Pavillons. Der spanische Außenminister konnte sich nicht ausweisen und blieb ebenso außen vor wie die Jury, die für diesen Beitrag den Goldenen Löwen erwogen hatte. „Es war der Biennale nicht angenehm, diesen Beitrag zu realisieren“, sagt Sierra, „aber ich fand die Idee gut, etwas zu schaffen, bei dem man sich unwohl fühlt.“
Womit er seinen Tenor beschreibt, der sich als „konfliktuelle Kunst“ auf eine Formel bringen lässt. All die Tattoo-Linien, die er Bedürftigen gegen kleines Geld auf den Rücken zeichnen ließ, die obskuren Haarschnitte und Haarfärbungen, die schwere, niedrig bezahlte Arbeit, für die er Tagelöhner in seinen Ausstellungen schuften ließ – Sierra hat sich wieder und wieder selbst als Ausbeuter inszeniert, um zu demonstrieren, dass auch die hehre Kunstwelt, der Markt auf Doppelmoral beruhen.
Zähne zeigen, auch das könnte sein eigenes Motto sein: gegen globale Ausbeutung, den Körper und seine Vermarktung durch Schwerstarbeit, die es immer geben wird in der Welt, mag diese noch so digitalisiert oder angeblich nur mehr von Dienstleistung dominiert sein.
In den letzten Jahren hatte man weniger von dem Agent Provocateur gehört. Nun hat ihm das Museo Centro de Arte Dos de Mayo seine erste institutionelle Einzelausstellung in seiner Geburtsstadt ausgerichtet, zudem wartet eine gerade abgedrehte, rund hundertminütige Dokumentation von Enrique Palacio über ihn auf ihre Premiere: „Der Finger in der Wunde“. Das jüngste darin vorgestellte Werk stammt von 2023, mit dem Sierra ein überraschendes, neues Kapitel in seinem Œuvre aufgeschlagen hat: „The Maelström“. In dem Video laufen junge Gambier, gebückt und mit rücklings verschränkten Armen, wie bei einer polizeilichen Festnahme auf eine Mauer zu und ergeben sich dort gleichsam.
Die Bilder sind auf verstörende Weise über Kopf gedreht. Sierra unterlegt sie mit einer sich endlos wiederholenden Litanei einer umstrittenen Äußerung von Josep Borrell, spanischer Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Der hatte Europa 2022 in einer Rede mit einem Garten verglichen, der vom Rest der Welt als einem „Dschungel“ angegriffen werde, wogegen es sich mit Mauern zur Wehr setzen müsse, die nicht hoch genug sein könnten. Zur Hälfte des dreißigminütigen Videos springt das Geschehen um: In einer erst kargen, dann opulenten Choreographie zeigen sich die schwarzen Körper auf strahlend weißem Grund, werden in Gruppen vervielfacht und in spiegelsymmetrischen Arrangements zu einem rhythmischen Ornament, bevor sie schließlich in einen Strudel übergehen. Unterdessen beginnt die manipulierte Stimme des EU-Repräsentanten schwer zu atmen und zu ächzen.
Sierras messerscharfe Ästhetik besticht fast immer
Eine beißende Polemik ist Sierra auch in diesem Statement gegen Rassismus und Kolonialismus nicht abhandengekommen, vor allem besticht es aber durch eine hochgezüchtete, messerscharfe Ästhetik. Hat sich sein Werk in den vergangenen Jahren damit grundlegend verändert, gar seine Streitlust nachgelassen? Ein heftiges Dementi klingt anders. Früher habe er sich „um Leute auf der Straße gekümmert“, jetzt arbeite er mehr im Studio (dem Computer an seinem Wohnzimmertisch), stecke „in einem anderen Leben“. Kunst sei doch mehr und mehr Dekoration, die Kultur habe eine andere Agenda angenommen: „Die Linke spricht nicht mehr über die Probleme der Arbeiter.“ Es sei heute sehr einfach, irgendeine Kontroverse loszutreten, aber darum gehe es ihm nicht. Sondern um die Sache. Sierra berichtet von seiner Teilnahme an einer Londoner Schau für Julian Assange, bekräftigt aber auch, dass er seit einiger Zeit das Augenmerk stärker darauf richte, eigene Arbeiten zu reinszenieren, weil sie unterschiedliche Bedeutungsebenen in sich trügen. Wie der Schlamm, mit dem er 2005 die Hannoveraner Kestnergesellschaft flutete, um an den Arbeitsdienst für den Maschsee im Dritten Reich zu erinnern. Schlamm sei archaisch, „ein zeitloses Material, taucht aber immer wieder in den Nachrichten auf“, so Sierra.

Als er 2023 den Catwalk einer Pariser Modenschau von Balenciaga in Matsch getaucht hatte, sei die „Referenz unmittelbar Rasputiza“ gewesen, die russische Schlammzeit, der Krieg in der Ukraine. Bei seiner im Mai anstehenden Schau im Museo de Arte Contemporáneo Helga de Alvear in Cáceres werde man in Spanien unweigerlich an die jüngste Flutkatastrophe in Valencia denken. In besagter Dokumentation kommt die Künstlerin Pilar Villela aus Mexico-City zu Wort, wo Sierra für ihn entscheidende Jahre verbrachte. Dort sei es durchaus üblich, dass Menschen bis zu sechs Stunden für ihren Weg zur Arbeit benötigten. Das sei „eine tägliche, albtraumhafte Tortur, und niemand ist schuld, aber über Santiago regen sich die Leute auf“. Er lade gezielt Schuld auf sich, „und damit schafft er ein Narrativ“. Der Künstler Julius von Bismarck nennt Sierras Kunst „extrem, auch einzigartig“. Ohne jemanden wie ihn „würde die künstlerische Freiheit immer kleiner werden“.
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