#Auf der Suche nach dem besseren Deutschland
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„Auf der Suche nach dem besseren Deutschland“
Entscheidend ist der Stoffwechsel. Das legte vor einigen Jahren eine Forschergruppe aus Albuquerque nahe, die untersucht hatte, warum Dinosaurier so groß wurden: zu groß vermutlich, um zu überleben. Erst ihre wendigen Nachfolger, die Vögel, die ihre hohe Stoffwechselrate für das Fliegen verwendeten, nicht für das Wachsen, waren evolutionär erfolgreich. Unter heutigen Giganten, denen des Streamings, scheint ebenfalls eine Grenze des Wachstums erreicht zu sein. Die ernüchternden Neuabonnentenzahlen, die Netflix zuletzt gemeldet hat, und die immer größere Konkurrenz im Markt lassen erste Analysten einen Preiskrieg zwischen Disney+, Amazon Prime Video und Netflix erwarten. Kleine Anbieter bis hinunter zu den Mediatheken schlagen bereits aufgeregt mit den Flügeln, wittern ihre Chance.
Für Filmemacher ist das (noch) eine äußerst komfortable Lage, zumal ihre Budgets mit der Nachfrage endlich sogar steigen. Allerdings sind bei der Produktion für die Platzhirsche immer exaktere Anforderungen zu erfüllen. Massenhaft eingekauft wird einfach das, was bereits prächtig gelaufen ist: edel und überwältigend produzierte runde Erzählungen, gern mit historischem Kern, aber klar getrennt von der grauen Außenwelt. Man könnte auch von hohem Stoff-Wechsel ohne evolutionäre Komponente sprechen. Was macht nun der filmschaffende Nachwuchs in einer solchen Situation? Er setzt zumindest hier und da auf die wendigen Kleinen im System. So ist in der Mediathek der ARD ab Sonntag eine wild-komische achtteilige Kurzserie zu sehen, mit der drei Studenten von der Ludwigsburger Filmhochschule zeigen, wie wenig Budget es braucht, um grandios zu unterhalten, wenn die Ideen nur so sprudeln und die Spielfreude sich kaum bändigen lässt.
Polizisten spielen Polizisten
Schon die vage ans Dogma-Kino erinnernde (aber weit weniger verkrampfte) Entscheidung, Polizisten von Polizisten spielen zu lassen oder Mitarbeiter der Ausländerbehörde von eben diesen, führt dazu, dass das Ergebnis überraschend aufgeraut wirkt. Dieser Eindruck wird bestärkt durch den weitgehenden Verzicht auf Szenenbild, Maske, Licht und ein ausgearbeitetes Drehbuch. Dass man solchen Purismus im angelsächsischen Indie-Genre „Mumblecore“ nennt, ist nicht weiter wichtig. Sehr wichtig hingegen ist, wie mitreißend den Darstellern das Improvisieren gelungen ist.
So spielt insbesondere Daniel Popat seine Hauptrolle mit Hingabe: einen jungen, gut integrierten Inder in Deutschland, der gleichwohl ausgewiesen werden soll und daher zu jeder Schlitzohrigkeit bereit ist. Auf der Behörde spricht Jamu schönstes Nix-verstehen-Deutsch. Auch heiraten würde er sofort, selbst seinen abgehalfterten, herzensguten Automatenzocker-Kumpel Uwe, eine perfekte Rolle für Heiko Pinkowski. Popat teilt sich mit Marco Hülser nicht nur die Verantwortung für das (offene) Buch, sondern vor allem auch für die rasante Regie. Als Produzent fungierte Lukas Lankisch. Der Plot ist eine Flucht in Ketten, teils ganz wörtlich zu verstehen, dabei aber Stanley Kramers Drama von 1958 in einem entscheidenden Punkt entgegengesetzt: Was die sympathischen Protagonisten bei allen Scharmützeln von Beginn an (und nicht erst im Finale) stärker als jedes Eisen zusammenschmiedet, sind Zuneigung, Freundschaft, Vertrauen.
Trailer
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All in
Video: ARD, Bild: Degeto/Filmakademie Baden-Würtem
Um untergründigen Rassismus geht es durchaus, in den Blicken der anderen, und auch Jamu verhält sich nicht immer politisch korrekt, wenn er etwa angesichts von Uwes Tochter (Lucy Alena Wilke) seine Heiratspläne aufgibt: „Die sitzt im Rollstuhl!“ Aber er schaut so wenig auf die Deutschen herab wie Kneipenhocker Uwe auf den passlosen Inder. Er würde den gefesselten Freund, der noch im geklauten Hochzeitsanzug steckt, zwar für ein paar Euro auf dem Straßenstrich vermieten, aber dass einer alles zu tun bereit ist, um nicht abgeschoben zu werden, ist ihm unmittelbar einsichtig. Mehr noch: Er will Jamu beistehen, reißt ihn damit freilich nur immer tiefer in den Abgrund.
So rast hier bald das schrägste Zechprellerpärchen seit den frühen, besoffenen Detlev-Buck-Filmen durch die deutschen Lande, ein Fuß immer auf dem (samt Auto entwendeten) Gaspedal, den anderen auf der Seife, und trotzdem wird selbst in den Szenen, in denen die beiden das ihnen offiziell nicht zustehende, aber mit Chuzpe ergriffene Sekundenglück genießen („Wenn das meine Familie in Indien sehen könnte, die würden das nicht glauben: dass es dem Jamu so gut geht“), viel echte Tragik transportiert. Bei allem hochgedrehten Witz (mit Anfassen) thematisiert „All in“ nämlich durchaus sensibel das tausendfach stattfindende Scheitern an der auf ausnahmsloser Regelbefolgung basierenden deutschen Gesellschaft. Zwei Strauchelnde nehmen es hier mit einem Apparat auf, gegen den sie nicht den Hauch einer Chance haben. Das ist nicht nur urkomisch, sondern auch das alte Drama von der Inkongruenz von Moral und Recht, aber ganz aus unserer Zeit heraus interpretiert.
So endet die Serie nicht am Sehnsuchtsort Mallorca („das bessere Deutschland“), sondern im gehörigen Schlamassel, und es ist allenfalls vage zu ahnen, wie sich eine weitere Staffel da hinauslavieren könnte. Was bleibt, sind zwei Einzelgänger, die sich gefunden haben: der Keim einer neuen Gesellschaft. Für eine wuchtig aufstampfende Hochglanzserie wäre die Charakterreise von Jamu und Uwe wohl zu irrlichternd – sie stürzen gemeinsam ins Bodenlose; als vogelfreie Partisanenproduktion aber ziert „All in“ die nach frischen, eigenständigen Inhalten suchende Mediathek der ARD ungemein.
All in ist seit Sonntag in der ARD-Mediathek abrufbar.
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