#Aufgerieben von der koreanischen Leistungsgesellschaft
Inhaltsverzeichnis
„Aufgerieben von der koreanischen Leistungsgesellschaft“
Ein weißer Bus rast auf einer Hochstraße durch die Nacht. In einer endlosen Schleife rauscht er durch die Stadt. Im hell erleuchteten Inneren sitzen einige ältere Frauen um einen Tisch herum und lesen eine illustrierte Ausgabe des Kamasutra. Auf der Rückbank sitzt ein Mann in Mönchskutte. Leuchtraketen zeichnen rote Punkte in den schwarzen Himmel. Eine junge Frau beobachtet ihn auf seiner Fahrt. Dann überrollt er vor ihren Augen einen Passanten. Vor Schreck legt sie eine Hand auf ihren Mund. Doch ihr entweicht kein Schrei. Der Bus kommt lautlos zum Stehen. So durchlebt die Protagonistin die Szene im Roman „Weiße Nacht“ der südkoreanischen Autorin Bae Suah mehrfach. Mal sitzt auf dem Bus eine weiße Krähe, mal ein kopfloser Hahn. Ob sie träumt, erinnert oder der Unfall sich wirklich so ereignet, erfährt der Leser nicht.
„Weiße Nacht“ ist Baes erster auf Deutsch veröffentlichter Roman. Dabei lebte die 1965 in Seoul geborene Autorin bereits in Berlin und Zürich und spricht fließend Deutsch. Koreanischen Lesern ist sie auch bekannt, weil sie Franz Kafka und Christian Kracht ins Koreanische übersetzt. Und als kafkaesk kann man auch „Weiße Nacht“ bezeichnen.
Impulshaftes Schreiben
Die Geschichte folgt der 28 Jahre alten Ayami bei ihrem letzten Arbeitstag in einem Hörtheater. Es wird am nächsten Tag geschlossen. Sie ist ausgebildete Schauspielerin, kann bislang jedoch nur eine Rolle in einem Kurzfilm eines Studenten vorweisen. Schon am Morgen staut sich in den engen Gassen Seouls die Hitze. Der Wetterbericht meldet 30 Grad und Luftspiegelungen. Die Kerze auf Ayamis Fensterbank schmilzt. Am Theater ist die letzte Vorstellung schlecht besucht, alles scheint so wie immer. Bis Ayami Stimmen aus den Lautsprechern hört. Als sie am Schichtende bereits abgeschlossen hat, taucht ein Mann am Eingang auf. Er stützt sich mit beiden Händen an der Glastür ab. Auf der anderen Seite tut es ihm Ayami gleich, sodass ihre Handflächen auf dem Glas übereinanderliegen. Aus der Nähe beobachtet sie die roten Adern in seinen Augen. Sie hört seine Gedanken. Ayami verliert den Verstand.
Bae Suah: „Weiße Nacht“. Roman.
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Bild: Suhrkamp Verlag
Bae hat ihren Roman mit Anspielungen an den Surrealismus gespickt. Mit ihrer Deutschlehrerin liest Ayami den Kurzroman „Die blinde Eule“ des iranischen Autors Sadegh Hedayat, der eine opiuminduzierte Traumwelt zeichnet. Der Theaterdirektor sagt über sich selbst, er sei so gewöhnlich, dass er niemals in einem Bild von Max Ernst vorkommen würde. In einem Interview mit der koreanischen Tageszeitung Hanguk Ilbo wurde Bae einmal danach gefragt, wie sie ihre Geschichten verfasse. Die Autorin sagte, dass sie keine Technik habe. Sie arbeite intuitiv und entscheide spontan, wohin sich eine Erzählung entwickle. Manchmal greife sie Sätze auf, die ihr im Traum begegneten.
Flashbacks zu traumatischen Erlebnissen
„Weiße Nacht“ ist als Produkt ihres impulshaften Schreibens zu erkennen. Der Roman mutet wie ein verschriftlichtes Gemälde Salvador Dalís an. Am Anfang ist der Leser noch versucht, sich an bestimmten Orten und Protagonisten festzuhalten. Doch immer dann, wenn man denkt, endlich wieder in der linearen Erzählung angekommen zu sein, zerschlägt Bae die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Realität und Gedankenwelt. Die Zeit verschmilzt, Personen verschwimmen ineinander. Ayami wandelt zwischen den Lebenden und den Toten. Der Leser verliert mit ihr den Boden unter den Füßen. Orientierungslos treibt man schließlich mit der Protagonistin durch die Nacht. Oder wird es schon wieder hell? Ayami lässt die Reise durch Raum und Zeit teilnahmslos über sich ergehen.
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