Wissenschaft

#Aufregung und Mamihlapinatapai – Gesundheits-Check

Die Pflege in Deutschland ist in keiner guten Verfassung – und das seit vielen Jahren. Karl Lauterbach hat dazu in der Presse nun auch noch einen unerwartet hohen Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen kundgetan:

„Es gibt zunächst einmal ein akutes Problem in der Pflegeversicherung. In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen. Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000. Eine so starke Zunahme in so kurzer Zeit muss uns zu denken geben. Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau.“

Fachleute haben diese Darstellung sofort kritisiert: Bereits in der Vergangenheit seien die Zahlen stärker gestiegen. Dem ist so. Nimmt man die Entwicklung der Daten seit der Veränderung des Pflegebegriffs 2017, so ist seitdem die Zahl der Pflegebedürftigen pro Jahr um ca. 340.000 angestiegen.

Die Lauterbachschen Zahlen sind zudem teilweise Dunkelziffern. Bisher sind die Daten der amtlichen Pflegestatistik 2023 noch nicht veröffentlicht, ebenso wenig wie die Geschäftsstatistiken der Pflegeversicherung. Lauterbach nennt zwar den Anstieg, aber keine Gesamtzahl, so dass man nicht weiß, auf welche Statistik er Bezug nimmt.
Das Statistische Bundesamt hat im letzten Jahr eine Pflegevorausberechnung vorgenommen. Ausgehend vom letzten Stand der Pflegestatistik 2021 kam es dabei in der Prognosevariante mit leicht steigenden Pfleqequoten für das Jahr 2023 auf 5,44 Mio. Pflegebedürftige. Die Pflegestatistik 2023 wird in Kürze vorliegen, dann wird man sehen, wie hoch die tatsächliche Zahl ist.

Diese Pflegevorausberechnung stützt übrigens Lauterbachs Aussage, demografiebedingt sei nur mit 50.000 Fällen mehr zu rechnen gewesen. Das Statistische Bundesamt hat bei einer Prognosevariante mit konstanten Pflegequoten für 2023 eine Zahl von 5.070.000 zu erwartenden Pflegebedürftigen ermittelt, also gut 100.000 mehr als in der Pflegestatistik 2021, ein Anstieg von gemittelt 50.000 pro Jahr. Mehr kann man dazu erst sagen, wenn die Bevölkerungsstatistik 2023 nach Altersgruppen vorliegt, das soll nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes im nächsten Monat geschehen. Dann kann man ausgehend von den Pflegequoten 2021 die für 2023 demografisch erwarteten Fälle ermitteln.

Auch wenn die Feststellung eines „geradezu explosionsartigen“ Anstiegs der Fallzahlen aus der Gegenüberstellung des realen Anstiegs gegenüber einer bloßen demografischen Hochrechnung angesichts schon länger steigender Pflegequoten etwas konstruiert wirkt, in der Sache hat Lauterbach Recht: Die Entwicklung der Fallzahlen wird die Finanzlage der sozialen Pflegeversicherung verschärfen und sie wird auch den seit langem bestehenden Pflegenotstand samt Personalmangel weiter verschärfen. Dem BMG zufolge fielen zuletzt je 10.000 Leistungsempfänger:innen in der sozialen Pflegeversicherung Kosten von 93 Mio. Euro im ambulanten Bereich und 273 Mio. Euro im stationären Bereich an.

Lauterbach benennt einen einfachen Schritt, um die Finanzen der sozialen Pflegeversicherung etwas zu entlasten: die Klassenunterschiede zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung zu beseitigen und beide Zweige zu einer Pflege-Bürgerversicherung zusammenführen. Die Leistungsansprüche in beiden Versicherungszweigen sind gleich, sehr unterschiedlich ist dagegen die Finanzierungsbasis. Mehr Pflegekräfte gäbe es mit einer Pflege-Bürgerversicherung natürlich auch nicht.
Lauterbach will jedoch keine Finanzreform der Pflegeversicherung mehr angehen:

„Eine umfassende Finanzreform in der Pflege wird in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr zu leisten sein.“

Das dürfte eine realistische Einschätzung sein. Da sich, trotz geplantem Pflegekompetenzgesetz, auch sonst bei der Pflege der Reformeifer in Grenzen hält, entsteht damit allerdings der Eindruck, dass Lauterbach bei der Pflege laut „Feuer“ ruft – und die Feuerwehr im Feuerwehrhaus lässt. Eine zumindest unglückliche politische Kommunikation. Mamihlapinatapai – man müsste etwas tun, aber wer soll es machen?

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