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#Bringt ihn bloß nicht zum Lächeln

Bringt ihn bloß nicht zum Lächeln

Manchmal zieht Joel Stevenett ein Taschenbuch mit Fotografien von August Sander aus der Tasche, um den Passanten, die er anspricht, zu zeigen, was er vorhat. Wie Sanders Typologie der Deutschen aus den zwanziger Jahren, mit allen Berufen und allen Ständen, so schwebt ihm eine Typologie der Menschen rund ums Kottbusser Tor vor. Spaziergänger und Obdachlose, Kellnerinnen im Café, Reifenmonteure in der Werkstatt, die Verkäuferin im Blumenladen, der Bäcker hinter seiner Theke mit dem Brot und der Drogenhändler unter der Überführung der U1, die quer über den Platz geht.

Freddy Langer

Freddy Langer

Redakteur im Feuilleton, zuständig für das „Reiseblatt“.

Es ist ein wildes Durcheinander am Kotti, wie der Ort von den Anwohnern verniedlicht genannt wird, auch wenn das Leben drum herum alles andere als niedlich ist. Manche Anwohner erzählen, dass sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr vor die Tür trauten. Und dann sagen sie noch, dass es eher schlimmer als besser würde. Dabei versucht die Stadt seit mehr als einem halben Menschenleben am Kottbusser Tor für Ordnung zu sorgen. Mal mit dem Abriss von halbzerfallenen Altbauten, die ersetzt wurden durch einen angsteinflößenden, endlos sich hinziehenden Apartmentblock, zwölf Etagen hoch, mal mit einer Fixerstube, um den Heroinsüchtigen ein Moment von Geborgenheit zu bieten. Dennoch häufen sich die Spritzen in manchen Nischen am Platz wie im Lager einer Apotheke.

Für Joel Stevenett ist der Platz mitten in Kreuzberg vor allem laut und bunt und voller Möglichkeiten. Seit einem Jahr besucht er ihn. Jeden Mittwoch für zwei, drei Stunden. Immer mit seiner Großbildkamera auf dem Stativ, damit ihn jeder sofort als Fotografen erkennt und durch den großen Apparat augenblicklich überzeugt wird von der Ernsthaftigkeit seines Projekts. Den Rest erledigt Ioana für ihn.

Daniel



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Porträts von Passanten
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Bringt ihn bloß nicht zum Lächeln

Joel ist vierzig und stammt aus Kanada, sie ist um etliches jünger und kommt aus Rumänien. Kennengelernt haben sich die beiden, als er jemanden suchte, der in einem Lager von Sinti und Roma für ihn übersetzt. Seither sind sie ein Team. „Er ist so schüchtern“, sagt sie über ihn. „She’s a charmer“, sagt er über sie. Und nur einen Moment später beweist sie es, als ein junger Mann mit zwei schwarz lackierten Schaufensterpuppen unter den Armen vorübergeht. Kurzentschlossen rennt sie hinter ihm her, verwickelt ihn in ein Gespräch und winkt Minuten später mit erhobenen Daumen zu Joel hinüber. Dann steigen die drei ein paar Treppen hinauf zum Paloma Club, wo die Puppen Teil einer Installation werden, und Joel macht sein Bild. Wieder unten, hat ein Graffitisprayer damit begonnen, seine Arbeit an der Wand eines Straßencafés fortzusetzen. Auch er lässt sich nicht lange bitten und steigt für ein Foto kurz von seiner Leiter.

So schnell geht es fast immer. Niemand habe lange Zeit. Und wer einmal nein gesagt hat, lässt sich nur selten noch überreden. Aber die meisten Menschen fühlen sich regelrecht geehrt und verlieren ihre Scheu spätestens dann, wenn Joel mit starkem Akzent von „Nachbarschaftsprojekt“ spricht und von seiner Hoffnung, die Bilder im Kiez ausstellen zu können. Nur an den alten türkischen Frauen mit Kopftuch beißt er sich noch immer die Zähne aus, während sich die jungen türkischen Frauen vor seiner Kamera in Pose werfen wie die Influencerinnen auf Instagram. Das lässt er selbstredend nicht zu. So wie Ioana den Kumpels des Manns mit den Schaufensterpuppen mit erschreckend einschüchterndem Ton erklärt: „Bringt ihn bloß nicht zum Lächeln.“

Denn darum geht es nicht: sympathische, nette Menschen zu zeigen. Mag Joel Stevenett auch mit dem Begriff „Community Project“ hausieren gehen, ist es ihm doch um mehr zu tun, ist seine Arbeit mehr als bloß ein Querschnitt der Passanten und Angestellten und Kleinunternehmer rund um einen Platz. Sie ist auch ein Querschnitt durch unsere Zeit, ist Abbild einer Epoche – Respekt und Ernsthaftigkeit ist deshalb das mindeste, was man erwarten darf. Vor und hinter der Kamera.

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