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Bülent Mumays Brief aus Istanbul: Erdogan lässt alle verhaften

Die Istanbuler leben seit Langem auf glühenden Kohlen. Der Grund dafür ist nicht, dass es von Tag zu Tag schwieriger wird, in dieser Stadt wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Oder dass die kulturelle Hauptstadt des Landes wegen der repressiven Regierungspolitik ausdörrt. Vielmehr droht ein Erdbeben, von dem niemand weiß, wann es eintritt, das aber, wenn es kommt, zweifellos Hunderttausende von uns das Leben kosten wird. Nach dem Erdbeben 1999 der Stärke 7,4 in der Marmara-Region, in der Istanbul liegt, wurde die Gefahr, dass die Verwerfungslinien in unmittelbarer Nähe der Metropole brechen, umso deutlicher. Deshalb fürchten wir, die geringste Erschüt­terung könnte das erwartete große Beben auslösen und die maroden Häuser, vor denen die Regierung mit Maßnahmen wie der Bauamnestie die Augen verschließt, uns das Leben nehmen.

Am 23. April ging diese Sorge der Istanbuler durch die Decke. Bei dem Erdbeben der Stärke 6,1 an diesem Tag kam niemand ums Leben, es stürzten lediglich ein paar verlassene Gebäude ein, und an einer geringen Zahl von Häusern entstand Schaden. Doch Millionen Menschen strömten auf die Straße, weil sie Angst hatten, der Erschütterung könnte das befürchtete große Beben mit einer Stärke über sieben folgen. Manche von uns übernachteten lieber in den wenigen der Stadt verbliebenen Parks, statt zurück in ihre Häuser zu gehen, andere fuhren zu Angehörigen auswärts. Und wissen Sie, wo das Epizentrum des Bebens lag? Ausgerechnet im Bezirk Silivri, wo die riesige Haftanstalt liegt, in der Erdoğan seine Gegner einsperrt. Einer der dort Inhaftierten ist Tayfun Kahraman, den Erdoğans Kontrahent Ekrem Imamoğlu unmittelbar nach seinem Regierungsantritt 2019 damit beauftragte, Istanbul gegen Erdbeben sicherer zu machen. Kahraman sitzt dort die 18-jährige Haftstrafe ab, zu der er verurteilt wurde, weil er angeblich die Gezi-Proteste von 2013 organisiert habe. Und sein Amtsnachfolger Gürkan Akgün wurde vor zwei Monaten mit Imamoğlu gemeinsam ebenfalls dort inhaftiert.

Bülent Mumay
Bülent Mumayprivat

Ein weiterer Insasse des Gefängnisses am Epizentrum des Erdbebens ist der Städteplaner Buğra Gökçe, der aufdeckte, dass Erdoğan Erdbebensammelplätze in Istanbul in Einkaufszen­tren umgewandelt hatte. Welch ein seltsamer Schachzug des Schicksals, dass jene, die die Stadt besser auf Erdbeben vorbereiten wollen, aufgrund un­sinniger Vorwürfe des Palastregimes hinter Gittern sitzen und 16 Millionen Istanbuler auf ein Wunder hoffen, um zu überleben.

Unhaltbare Gründe

Nicht bloß die in Angst vor einem Erdbeben lebenden Istanbuler warten auf ein Wunder. Auch Erdoğan, der in seinem 1000-Zimmer-Palast in Ankara sicher wie in einer Festung lebt, hofft auf ein solches. Es gelingt ihm partout nicht, zu verhindern, dass die Unterstützung für Ekrem Imamoğlu weiter steigt. Er hatte Imamoğlu im März inhaftieren lassen, als er merkte, dass der ihm seinen Posten abspenstig machen würde. Ebenso wenig kann Erdoğan die Tatsache ändern, dass er in keiner einzigen Umfrage vorn liegt. Nicht einmal die eigene Wählerschaft kann er davon überzeugen, dass die Operation gegen Imamoğlu und sein Team rechtmäßig war. Laut Umfragen glauben drei von vier Wählern in der Türkei trotz entgegengesetzter Propaganda der von der Regierung kontrollierten Medien, Imamoğlus Verhaftung sei po­litisch motiviert. Außerstande, diese Auffassung zu kippen, versucht Erdoğan mit neuen juristischen Schritten Stimmung zu machen. Doch auch die zweite Welle der Operationen gegen Imamoğlus Team führte zu keinem Wandel in der Öffentlichkeit.


Bild: Emir Özmen, Bearbeitung F.A.Z.

Seit 2016 berichtet Bülent Mumay in seinem „Brief aus Istanbul“ über die politischen Entwicklungen in der Türkei und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben.

Eine Auswahl von Beiträgen unserer Kolumne ist bei Frankfurter Allgemeine Buch erschienen.

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Einem der ohne konkrete Beweise, allein auf Aussagen geheimer Zeugen hin festgenommenen Verwaltungsbeamten wird vorgeworfen, Bestechung von einem Unternehmer verlangt zu ha­ben. Dabei ist genau das Gegenteil richtig: Der Beamte hatte sich an die Justiz gewendet, weil ihn der Geschäftsmann bedrohte, nachdem er dessen Projekt abgelehnt hatte, daraufhin erhielt dieser Schutz von der Präfektur, die Erdoğan untersteht. Einem anderen Mitglied aus Imamoğlus Team wird zur Last gelegt, an einer geheimen Sitzung in einem Hotel in Istanbul teilgenommen zu haben. Allerdings befand der Mann sich zu diesem Zeitpunkt mit seiner Familie im Ausland. Gegen einen dritten Beamten der Verwaltung wird vorgebracht, er hätte im letzten Jahr eingestrichene Bestechungsgelder durch seinen Schwiegervater auf sein Konto in Athen einzahlen lassen. Doch es stellte sich heraus, dass der Schwiegervater vor vier Jahren verstorben ist und weder der Schwieger­vater noch er selbst je in Athen war.

Ein schwammiges Delikt

Die Operationen und Festnahmen, die Erdoğan forciert, um die Oppo­sition auszuschalten, haben absurde Dimensionen angenommen. So wurde auch Imamoğlus Anwalt verhaftet. Und ein paar Tage darauf der Anwalt von Imamoğlus Anwalt. Und, kein Scherz, unmittelbar darauf der Anwalt des Anwalts des Anwalts. Allen wird „Einflussnahme auf die Justiz“ vorgeworfen. Doch ist es nicht gerade die Aufgabe von Rechtsanwälten, die Justiz zugunsten ihrer Mandanten zu beeinflussen?

Das vom Palast errichtete Angst­regime ist bestrebt, mithilfe der politisierten Justiz alle und jeden mundtot zu machen, Aktivisten, Studenten, Jour­nalisten, Politiker der Opposition. Die Türkei wurde infolge von Erdoğans Repressalien nicht nur zum Open-Air-Gefängnis, auch die geschlossenen Anstalten sind überfüllt. Unter der AKP-Regierung stieg die Zahl der Gefäng­nis­insassen um 570 Prozent. Die Haft­an­stalten verfügen über eine Kapazität von 300.000 Plätzen, doch über 400.000 Gefangene sitzen zurzeit ein. Die Regierung plant, allein in diesem Jahr elf neue Gefängnisse zu errichten. Auch diese neuen Haftanstalten werden dank Erdoğans repressiver Politik bald voll, übervoll sein. Mit einem neuen Gesetz hat der Palast gerade das schwammige Delikt „Störung der öffentlichen Ordnung“ erfunden. Damit könnten die Millionen, die nach der Verhaftung Ekrem Imamoğlus am 19. März auf die Straße gingen, wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu Haftstrafen verurteilt werden.

So wird sonst über den Tod von Tieren geredet

Erdoğan reicht es nicht, alle einschließlich seines aussichtsreichsten Konkurrenten mit dem Knüppel der Justiz zum Schweigen zu bringen. In sehr hässlicher Weise ging er noch einen gefährlichen Schritt weiter. In Bezug auf den inhaftierten Ekrem Imamoğlu verkündete er: „Er wollte Präsident werden, jetzt ist er Geschichte. Schauen wir einmal, wie viele CHP’ler mit Präsidentschaftsambitionen noch zugrunde gehen werden.“ Der Ausdruck „zugrunde gehen“ bezeichnet üblicherweise den Tod von Tieren. Mit dieser Äußerung be­kannte Erdoğan nicht nur, dass er Imamoğlu aus politischen Gründen einsperren ließ. Auch sprach er eine Drohung gegen die Spitzen der Oppositionsführerin aus und machte sie zugleich zur Zielscheibe. Ein paar Tage darauf kam es zu einer Prügelattacke gegen Özgür Özel, den Vorsitzenden der CHP, die Imamoğlu als Kandidaten aufgestellt hatte. Unser Staat, der pro Tag 200.000 Euro für Erdoğans Schutz aufwendet, beschränkte sich darauf, dem Angriff auf den Chef der stärksten Partei der Türkei untätig zuzuschauen.

Später kam heraus, dass der Mann, der unbehelligt auf Özgür Özel einschlagen konnte, 2004 zwei Kinder getötet hatte und im Zuge einer von Erdoğan erlassenen Amnestie aus der Haft entlassen worden war. 2020 waren bei dieser Amnestie Mörder, Drogendealer und Vergewaltiger freigekommen, während Journalisten und Oppositionspolitiker als politische Gefangene weiter hinter Gittern blieben. Paragraph zwei unserer Verfassung, dessen Änderung nicht einmal ins Gespräch gebracht werden darf, besagt, die Republik Türkei sei ein Rechtsstaat. Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie unseren Justizminister, der Mörder laufen, für die Inhaftierung weiterer Oppositioneller aber neue Gefängnisse bauen lässt. Eben jenen Minister, der im Laufe des letzten Monats ganze vierzigmal beteuerte: „Unsere Jus­tiz ist unabhängig.“

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

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