#Das Quartier ist mehr als ein Marketing-Etikett
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„Das Quartier ist mehr als ein Marketing-Etikett“
Schaut man auf die Europacity in Berlin, die Münchener Messestadt Riem oder in Frankfurt auf das Europaviertel und den Riedberg, stellt sich die Frage, ob uns die Fähigkeit verloren gegangen ist, lebenswerte Städte mit urbanen Räumen zu schaffen. Die jüngst fertiggestellten Neubauviertel wirken überwiegend monoton und steril. Ihre Erdgeschosszonen sind weithin blind, erzeugen kein städtisches Leben.
Nun kann man zwar einwenden, dass diesen Quartieren noch die Patina fehlt, die Gebrauchsspuren eines vielfältigen, bunten, widersprüchlichen Alltagslebens. Das ist eine Frage der Zeit, denn auf historischen Fotos von neu errichteten Gründerzeitquartieren oder der prägnanten Hufeisensiedlung im Berlin der 1920er Jahre sieht das, was heute sehr geschätzt wird, kahl und abweisend aus. Allein schon Bäume und anderes Grün verändern das Bild nach ein paar Jahrzehnten enorm.
Doch unabhängig davon fällt auf, wie inflationär der Begriff des Quartiers heute benutzt wird. Fast jede Gruppe von Gebäuden, und sei sie noch so klein oder monofunktional, heißt so. Die Sache mit dem Terminus ist vertrackt, weil er suggestiv ist und bildreiche Assoziationen – ein Gefühl von Nachbarschaft und Begegnung – heraufbeschwört. Weil er ebendeswegen häufig mit Vermarktung zu tun hat und insofern interessengeleitet eingesetzt wird. Selbst Shoppingcenter werden als Quartier tituliert. Ähnlich verhält es sich beim Kiez oder bei der Zuschreibung der Höfe, die ja heute im Immobiliensprech allgegenwärtig sind.
Strategisches Ordnungsmodul der Stadt
Ohnehin scheint nur vordergründig klar, was ein Quartier oder einen Kiez ausmacht. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass wir je nach biografischem oder professionellem Erfahrungshorizont wohl stets etwas anderes darunter verstehen. Der bekannte amerikanische Stadtforscher George Galster traf mit seiner Aussage den Nagel auf den Kopf, als er feststellte, dass das Quartier ohne jeden Zweifel eine sozialräumliche Organisationsform sei, die größer als ein Haushalt, aber kleiner als eine Stadt ausfalle – und mit dem Fazit schließt: Aber das sei auch der Punkt, an dem der Konsens endet.
Jenseits der ungeklärten Größenfrage ist das Quartier freilich von entscheidender Bedeutung: zum einen als grundsätzliches Ordnungsmodul der Stadt, zum anderen aber auch als entscheidendes strategisches Bindeglied zwischen Metropole und privatem Haushalt. Dem Quartier wird zugetraut, gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften zu können: Hier gibt es räumlich verankerte Netzwerke, vor Ort wirksame Organisationen und Institutionen, hier kennt man sich, hier gibt es noch die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Identifikation – so heißt es.
Was bietet Lebensqualität?
Tatsache ist: Das Umfeld der Wohnung nimmt in Zeiten zunehmender Verunsicherung, Überforderung und Beschleunigung an Bedeutung für die Selbstversicherung und Identifikation zu. Damit steigt aber auch der Anspruch, über die Regeln dort (mit)bestimmen zu können. Je länger vor Ort, desto größer das Bedürfnis, dass sich alle nach der ungeschriebenen, aber gelebten Hausordnung richten. Jeder Fremde, der heute kommt und morgen bleibt, kann dann als potentielle Bedrohung der eigenen Identität wahrgenommen werden, worauf man sich noch rigider unter seinesgleichen zurückzieht.
Wie aber muss ein Quartier beschaffen sein, um Lebensqualität zu bieten? Wenn in schnell hochgezogenen, nüchternen Neubauvierteln ein unbebauter Platz vollmundig als Piazza deklariert und mit wie auch immer aufwendigem Straßenmobiliar versehen wird, ist das mitnichten gleich ein öffentlicher Raum. Denn der setzt einen Akt der gesellschaftlichen Aneignung voraus. Grundsätzlich gesagt: Je globaler und virtueller unsere Welt wird, desto stärker sehnen sich die Menschen nach einem Ort, der Identität vermittelt. Nicht zuletzt hat ja die aktuelle Corona-Krise allen vor Augen geführt, dass der gemeinsame physische Raum ein wichtiges atmosphärisches Element für das Alltagsleben ist.
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