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#Das unfreie Leben eines Handlungsreisenden

Das unfreie Leben eines Handlungsreisenden

Bis an die Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert hatte die marxistische Klassentheorie ihr Gesamtbild von der sozialen Welt an den Organisationen der Industriearbeit abgelesen. Der Interessengegensatz zwischen Belegschaft und Firmenleitung sollte nicht nur den Produktionsbetrieb, sondern als Klassenkampf zwischen Arbeitern und Eigentümern auch die Gesellschaft im Ganzen bestimmen. In diese Theorie passten die Angestellten in den großen, bürokratisch organisierten Betrieben nicht recht hinein.

Ausgestattet mit besserer Schulbildung und von physischer Arbeit befreit, von der Geschäftsführung mit Aussichten auf innerbetriebliche Aufstiege umworben und schon darum der formalen Hierarchie gegenüber keineswegs ablehnend eingestellt, schienen sie, auch für sich selbst, eher den Beamten in der öffentlichen Verwaltung als den Arbeitern im eigenen Hause zu gleichen. Die zeitdiagnostische These vom neuen Mittelstand machte die Runde.

Die bedeutenden Beiträge zu Soziologie der Angestellten aus dem ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts hatten allesamt die Absicht, diese These zu widerlegen: Gegen übersichtliche Entlohnung mit eintöniger Arbeit befasst, ohne krisenfesten Kündigungsschutz und an allen Gipfelstürmen des Sozialaufstiegs durch künstliche Bildungshürden gehindert, könnten sich die Angestellten, wie der Soziologe Hans-Paul Barth es einst formulierte, „von den Arbeitern nur dadurch unterscheiden, dass sie sich von ihnen unterscheiden“.

Ein organisationssoziologischer Geheimtipp

Im Zeitalter einer „Dienstleistungsgesellschaft“ aus lauter Angestellten muss dieses Beweisziel recht antiquiert wirken. Die Beobachtungen, zu denen es seinerzeit anregte, kann man aber auch heute noch mit großem Gewinn lesen – teils als lebendige Selbstzeugnisse einer vergangenen Zeit, teils als bleibende Beiträge zur Soziologie großer Organisationen. Neben dem berühmten Angestelltenbuch von Siegfried Kracauer gilt das auch für eine zweite und durchaus gleichrangige Schrift, von der man, nachdem sie lange vom Buchmarkt verschwunden war, seit wenigen Wochen den Nachdruck ihrer Erstausgabe aus dem Jahre 1933 lesen kann: „Beruf und Ideologie der Angestellten“ von Carl Dreyfuss.

Den Rang eines organisationssoziologischen Geheimtipps hat sich der Autor, ähnlich wie Kracauer übrigens ein Jugendfreund Theodor W. Adornos, vor allem dadurch verdient, dass er seine Generalthese vom unfreien und weisungsgebundenen Dasein der Angestellten an einer entscheidenden Stelle stark relativiert, nämlich für all diejenigen Organisationsmitglieder, die ihren Betrieb vor Nichtmitgliedern zu repräsentieren haben, und von denen er neben den Verkäuferinnen im Einzelhandel vor allem die Handlungsreisenden würdigt.

Den Verkäuferinnen prognostizierte Dreyfuss zutreffend, dass die damals noch neue Institution der unverhandelbaren Festpreise das soziale Geschick entwerten werde, das man ihnen damals noch anzutrainieren pflegte. Auf ihre Fähigkeit, jeden Kunden merklich besser zu behandeln, als es seinem wirklichen Status entspricht, um ihn auf diese Weise zum Bezahlen überhöhter Preise oder zu kostspieligen Anschaffungen zu motivieren, werde es in Zukunft nicht länger ankommen.

Wie ein umgedrehter Geheimagent

Am Handlungsreisenden hebt Dreyfuss dagegen eine Reihe von Merkmalen hervor, die von der später einsetzenden Organisationssoziologie auch an anderen Repräsentationsrollen und Grenzstellen entdeckt wurde. Der Reisende hat es mit einem Publikum zu tun, das der Organisation nichts schuldet und das daher, anders als die Angestellten selbst, auch nicht zuverlässig dirigiert werden kann, sondern überzeugt werden muss – zuweilen mit ungewöhnlichen Mitteln, von denen die offene Bestechung nur das drastische Beispiel bildet.

Eine andere Technik besteht darin, Forderungen und Wünsche des Kunden auch gegen etwaige Widerstände im eigenen Hause zu vertreten, um sich auf diese Weise sein Wohlwollen für künftige Situationen zu sichern. Das setzt den Vertreter dem Verdacht seiner Kollegen und Vorgesetzten aus, so etwas wie ein umgedrehter Geheimagent zu sein, der längst schon die Sache der Gegenseite vertritt.

Das bewährte Mittel dagegen, nämlich die Befristung der Publikumsbindung, so wie man sie aus dem diplomatischen Dienst kennt, hat freilich seine eigenen Tücken. Denn der Nachfolger des gut eingeführten Repräsentanten erbt von diesem nur das Amt und nicht den persönlichen Einfluss, nicht das Kontaktnetz, nicht die bewährten Beziehungen. Anders als in der klassischen Bürokratie vorgesehen, lassen sich die Wirkungsmittel, denen die „Verkaufskanone“ ihre Erfolge verdankt, nicht in den Besitz der Organisation überführen. Sie bleiben in notwendigem Privatbesitz, und das bedeutet auch, dass sie im Falle einer Entlassung zusammen mit der Person in den Konkurrenzbetrieb abwandern könnten. Kein Wunder daher, so Dreyfuss, dass manche Vertreter, ähnlich wie die im Publikum beliebte Schauspielerin, im eigenen Hause die Freiheiten einer Diva genießen.

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