Osterspaziergang auf den Spuren des Dichters

Inhaltsverzeichnis
Die ersten zwei Absätze gehören zum Fundament aus rotem Sandstein. Dann geht es auf einer Metalltreppe weiter, bevor der Aufstieg auf Holzstufen fortgesetzt wird. „Edelkastanie“, sagt Thomas Claus und deutet auf die vier schlanken Säulen an jeder Ecke des Goetheturms: „Ist in fünf Jahren ganz schön nachgedunkelt. Bei der Eröffnung war das noch viel heller.“ 17 Stufen später ist das erste Podest erreicht. Der Blick bleibt im Waldesgrün hängen; von unten schimmern die weißen Blüten des Immergrüns herauf, das rund um das Turmfundament blüht.
Die Bank, die hier zum Ausruhen einlädt, bleibt frei. Wie alle an dieser Stelle zieht es auch Claus in die Höhe. Wie oft er schon hier emporgestiegen ist, kann er nicht beziffern. Oft jedenfalls. „Die Beschäftigung mit dem Goetheturm“, sagt der 1963 in Dresden geborene Produzent und Regisseur, der seit 2010 in Frankfurt lebt, mit weich gefärbter Sprachmelodie, „ist für mich bissel ’ne Herzensangelegenheit.“ 2020 hat er über den originalgetreuen Wiederaufbau des Frankfurter Wahrzeichens, das in den frühen Morgenstunden des 12. Oktobers 2017 durch einen Brandanschlag zerstört wurde, einen Film gedreht, der auf Youtube und am 17. Mai beim Tag der offenen Tür im Frankfurter Römer zu sehen ist.

Inzwischen ist das nächste Podest erreicht. Hier geht der Blick gen Süden, auf einen ausgedehnten Waldspielpark mit großer Rutsche, Holzlabyrinth, Kletterturm, Wikingerschiff, kleinen Hütten und Schaukeln. Kinder rennen hin und her; ihre fröhlichen Rufe fliegen durch die Luft. Früher ist Claus oft mit seinem Sohn hierhergekommen und mit ihm auf den Turm gestiegen. Heute fällt ihm zuerst ein anderer Mensch ein, wenn er an den Goetheturm denkt: Gustav Gerst.
Auf einer Stele am Fuß der himmelstrebenden Holzkonstruktion ist ein Bild dieses Mannes zu sehen, der den ursprünglichen, 2017 abgebrannten Goetheturm gestiftet hat. Viele Besucher bleiben hier stehen, bevor sie den Aufstieg beginnen. Und erfahren, dass Gerst, ein Mitglied der Kaufmannsfamilie Tietz, seine Spende nicht bekannt machen wollte. „Erst Oberbürgermeister Walter Kolb“, heißt es weiter, „erinnerte 1949 nach Flucht und Tod des jüdischen Kaufmanns mit einer Gedenktafel an die Schenkung.“
28.000 Reichsmark für den Bau
28.000 Reichsmark hat Gerst für den Goetheturm gespendet; diese Summe entspricht Claus zufolge nach heutigem Wert 560.000 Euro. 1919 kam Gerst aus Bamberg nach Frankfurt, wo er sich als Mäzen um die Stadtgesellschaft verdient machte und die Ehrendoktorwürde der Goethe-Universität erhielt. „Es tut nach wie vor not, an ihn zu erinnern“, sagt Claus, „denn er steht für die Frankfurter Stadtgeschichte.“
Die von Kolb 1949 enthüllte Gedenktafel verbrannte 2017 mit dem Turm. Er habe sich dann, berichtet Claus, dafür eingesetzt, dass sie originalgetreu ersetzt wurde. Geschnitzt hat die neue Tafel der Oberurseler Künstler Hendoc. „Goetheturm-Baujahr 1931 / Stifter Gustav Gerst / Turmhöhe 43,3 m / Stufen 196 / Verbaute Holzmenge 170 cbm / Fußpunkt 147 über NN“ steht nun wieder an dem mächtigen Balken zu lesen, unter dem jeder hindurch muss, der den Turm besteigen will. „Ohne Gerst“, sagt Claus im Brustton der Überzeugung, „hätte es den Goetheturm nie gegeben.“

Kolb habe sich nach 1945 sehr für die Reparatur des Turms eingesetzt. „Vielleicht auch, weil man von dort oben den Wiederaufbau Frankfurts so schön verfolgen konnte?“ Das hölzerne Bauwerk hatte zwar den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden, doch im bitterkalten Winter 1946 waren viele Stufen herausgerissen und verheizt worden. Die Instandsetzung der Nachkriegszeit hat Gerst nicht mehr erlebt. Nach der Enteignung seiner Familie durch die Nationalsozialisten wurde er aus allen Ämtern vertrieben, zum Verkauf seiner umfangreichen Kunstsammlung, darunter Gemälde von Peter Paul Rubens, Max Liebermann und Joshua Reynolds, gezwungen und aus seiner Villa an der Niederräder Landstraße 10 vertrieben.
1939 gelang ihm gemeinsam mit seiner Frau Ella die Flucht nach Schweden. Fünf Jahre später erreichten beide New York, wo Gerst 1948 starb. Um an den verdienstvollen Frankfurter zu erinnern und sein Leben zu erforschen, hat das Institut für Stadtgeschichte 2021 ein Symposium veranstaltet, an dem Claus als Moderator und Referent beteiligt war.
Der nächste Treppenabschnitt führt wieder auf die andere Seite des Turms, wo der Blick Richtung Norden geht. Auf der obersten Stufe prangt ein Graffito. Je höher es geht, desto öfter finden sich solche Markierungen selbst ernannter Straßenkünstler. Vom nächsten Plateau schweift der Blick knapp über die Baumwipfel. Wer hier ankommt, freut sich über jedes Bauwerk, das er erkennt: „Der Messeturm!“, „Der Ginnheimer Spargel!“, „Der Henninger-Turm!“

100 Stufen sind zurückgelegt; der Wind pfeift um die Ohren. Bei einer Böe scheint der Turm leicht zu zittern. Schwankt er nicht gar ein wenig? Kein Grund zur Sorge; der Frankfurter Goetheturm ist eine Meisterleistung der Zimmermannskunst. Und hinabstürzen kann auch niemand mehr, da alle offenen Flächen und auch der Luftschacht im Inneren von oben bis unten mit rautenförmig gefügten Netzen aus Edelstahl gesichert sind. Wieder eine Etage höher ist dann die gesamte Skyline zu sehen, hinter der sich sanft gewellt der Taunus hinzieht. Dann endlich ist die überdachte Kanzel erreicht, die einen weiten Rundblick gewährt.
„Ur-Goetheturm“ wurde 1925 abgerissen
„Kehre dich um, von diesen Höhen nach der Stadt zurückzusehen“, fordert Faust seinen Famulus Wagner beim gemeinsamen „Osterspaziergang“ auf. Vielleicht hätte Goethe diese Worte hier oben auf der Kanzel des nach ihm benannten Turms zitiert, wäre er gut 270 Jahre später geboren worden. Doch als das von Gerst finanzierte Bauwerk eröffnet wurde, bereitete man sich gerade darauf vor, den 100. Todestag des Dichterfürsten zu begehen. Es wäre also nicht verkehrt, neben die Plakette im Turm, die auf den 2024 an das Bauwerk verliehenen „Holzbaupreis Prohessen“ hinweist, eine dieser Postkarten mit der Aufschrift „Hier war Goethe nie“ zu hängen. Goethe war hier oben nie. Warum aber trägt der Turm dann seinen Namen?
Die Antwort heißt Goetheruh’ und befindet sich keine 200 Schritte entfernt. Hier rastete der Dichter, wenn er vom Elternhaus am Großen Hirschgraben zur Gerbermühle oder nach Offenbach unterwegs war, auf einem Hügel. Der schöne, damals noch unbewaldete Aussichtspunkt hieß „Hexeneck“. 1871 entschlossen sich Frankfurter Bürger, wie es in einem zeitgenössischen Dokument heißt, den inzwischen in Goetheruh’ umbenannten Platz „als freien Aussichtspunkt zur Geltung zu bringen sowie durch einen auf der Höhe errichteten einfachen Tempel zu einem der köstlichsten Aussichtspunkte der näheren Umgebung umzuschaffen“.
Goethe-Tempel musste weichen
Doch dieser „Ur-Goetheturm“, ein 22 Meter hohes pagodenartiges Bauwerk mit rundem Dach und kirchturmartiger Spitze über der Aussichtsplattform, musste 1925 wegen Baufälligkeit abgerissen werden. Heute landet der Blick hier im Grün der dichten Bewaldung. Und statt eines „Tempels“ erinnert die Nachbildung einer dorischen Sandsteinsäule an den großen Sohn der Stadt. Das in dieses Kunstwerk des Schotten Ian Hamilton Finley gemeißelte Zitat „Arkadien, ein Königreich in Spartas Nachbarschaft“ stammt (leicht verändert) aus dem 3. Akt von Goethes „Faust II“.
Auch wenn der heutige Goetheturm nicht am Rastplatz des Dichters steht, lässt der Blick von seiner 40 Quadratmeter umschließenden Brüstung in luftiger Höhe in diesen Tagen an seinen „Osterspaziergang“ denken. Ist nicht der in hundert verschiedenen Grüntönen leuchtende Wald ringsum gerade erst „durch des Frühlings holden, belebenden Blick“ erwacht? Deutlich ist es zu sehen: „Im Tale grünet Hoffnungsglück.“ Und trotz der zahlreichen Graffiti bleibt doch zu hoffen, dass sich überall „Bildung und Streben“ regt.
Dem Bürger einer freiheitlichen Gesellschaft drängen sich von selbst die Schlusszeilen des „Osterspaziergangs“ auf: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Vielleicht fällt der Aufstieg auf den Goetheturm leichter, wenn dabei das Gedicht vom Anfang bis Ende rezitiert wird? „Wie der Fluss in Breit und Länge so manchen lustigen Nachen bewegt“, ist leider von der Spitze des Goetheturms aus nicht zu erkennen. Dafür aber überblickt man den gesamten Stadtwald samt Monte Scherbelino, schaut hinüber nach Offenbach und kann bei klarem Wetter die Höhenzüge von Vogelsberg, Spessart und Odenwald betrachten.
Hätte die Stadt Frankfurt nach dem Abriss des „Tempels“ auf der Goetheruh’ genug Geld gehabt, wäre der neue Turm 1931 aus Stahlbeton errichtet worden, erzählt Claus. Das nämlich habe der damalige Stadtrat für Hochbau- und Siedlungswesen, Ernst May, vorgeschlagen. Weil der Goetheturm jedoch dann aus Holz gebaut wurde, das mit Öl imprägniert war, brannte er 2017 wie Zunder. Der Täter ist bis heute nicht gefasst; Hoffnung, ihn zu finden, gibt es offenbar nicht mehr.
„Das Verfahren ist eingestellt und ruht“, sagt Dominik Mies von der Staatsanwaltschaft Frankfurt. Der für rund 2,4 Millionen Euro, davon 195.000 Euro Spenden Frankfurter Bürger, wiederaufgebaute Turm ist alarmgesichert und wird von Kameras überwacht. Zwischen 1. April und 31. Oktober kann er täglich von 8 Uhr bis zum Einbruch der Dunkelheit, spätestens aber bis 20 Uhr, besucht werden. Und nachts wird er gut verschlossen.
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