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#Der intellektuelle Freischärler

Der intellektuelle Freischärler

Der erste Eindruck: ein Blick in ein historisches Dokument, in eine Zeit, in der Literatur und Politik sich selten nahestanden. Eine Reise zurück in die Zeit vor 1989, vor den Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs, den Jean Genet (1910 bis 1986) nicht mehr miterleben sollte. Seine politischen Schriften und Interviews, die im Rahmen der deutschen Werkausgabe im Merlin Verlag erscheinen, sind seinem literarischen Werk ganz nahe, thematisch, aber auch strukturell, denn für Genet war Literatur ein Akt der Revolte. Das hielt ihn von konkreten Engagements nicht ab, die im Band ausführlich zur Sprache kommen: besonders für die Black Panthers und die Palästinenser, darüber hinaus für die Migranten in Frankreich und nebenbei etwas für den Vietkong.

Die Essays lassen sich vor allem auf die Jahre 1968 bis 1975 datieren, mit 1970 als Höhepunkt, dem Jahr der Reisen in die vereinigten Staaten und nach Palästina. Angetrieben wurde Genet von dem Wunsch, auf der Seite der „Wahrheit von morgen“ zu stehen – und von einem leidenschaftlichen Hass auf die französische Mehrheitsgesellschaft (verkörpert etwa durch Valéry Giscard d’Estaing), auf „den US-amerikanischen Imperialismus“ oder auf Israel als einen „Bluterguss auf der Schulter der Muslime“. Sprich: auf die westliche Welt, die als kolonialistisch-kapitalistisch gebrandmarkt wird.

Provokation und Skrupellosigkeit waren Spuren des Straßenjungendaseins

Auch wenn die Lage der Palästinenser und der Schwarzen im Wesentlichen unverändert ist, scheinen heutigen Lesern viele Themen und Urteile Genets obsolet – vor allem jedoch seine politische Sprache, die fast wie Intellektuellen- und Populärkultur-Folklore längst vergangener Zeiten wirkt. Je nach Standpunkt kann man sie entweder als fehlgeleitet verurteilen (beziehungsweise belächeln) oder aber mit Nostalgie für idealistisches Engagement bedenken. Beide Blickschneisen zurück gehen indes fehl. Individuell betrachtet, spricht einiges für Genet, der sich zuerst als Romanautor einen Namen machte, besonders mit „Querelle de Brest“ (1947) und dem „Tagebuch des Diebes“ (1949); Jean Cocteau und Jean-Paul Sartre waren seine Entdecker und Förderer. Vielleicht noch markanter sind die Dramen, etwa „Die Zofen“ (1947), „Die Neger“ (1958) oder „Die Wände“ (1961).

Das Kind der öffentlichen Fürsorge, das mit dreizehn Jahren aus der Pflegefamilie und von der Schule genommen wurde, um in der Folge sämtliche Freuden von Erziehungs-, Besserungs- und Strafanstalten zu genießen, die das Frankreich der Dreißiger- und Vierzigerjahre zu bieten hatte, konnte jedenfalls exzellente Gründe geltend machen, um mit seinem Heimatland über Kreuz zu liegen. Dass Genet dafür drastischen Ausdruck fand, indem er sich über den Sieg Hitler-Deutschlands 1940 freute, zeigt eine entschiedene Lust an der Provokation und die Skrupellosigkeit des Straßenjungen, der er gewesen war.

Jean Genets gesammelte Werke.


Jean Genets gesammelte Werke.
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Bild: Verlag

Brisante Rechtfertigung revolutionärer Gewalt

Der zweite Punkt ist allgemein. Seit die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins um 1800 entdeckt wurde, wird die Veränderungskraft der Zeit gern überschätzt. Sicher, die Zeiten ändern sich, einige Dinge hingegen nicht – viele Werte oder Gefühle etwa sind eher Nuancen menschlicher Grundausstattung, deren Variationen intellektuell interessant sind, aber keine fundamentale Veränderung meinen. Und wenn sich Umstände oder Verhaltensweisen ändern, dann ist keineswegs gesagt, dass diese Veränderung von Dauer ist. Darum ist das, was Genet in seinen politischen Schriften und Interviews proklamiert, vielleicht nicht so vergangen, wie es manchem scheinen mag.

Das brisanteste Beispiel ist die Rechtfertigung revolutionärer Gewalt. Genet tut das vor allem in seinem berühmt-berüchtigten Text „Gewalt und Brutalität“ (erschienen in Le Monde vom 2. September 1977), der den in Stammheim inhaftierten Mitgliedern der RAF gewidmet war und einen Skandal auslöste: Drei Tage nach Erscheinen sollte der BDI-Präsident Hanns-Martin Schleyer von der RAF entführt werden, wobei drei Menschen starben; Schleyer wurde später ermordet. Auszüge des Artikels erschienen im Magazin Der Spiegel am 12. September auf Deutsch. Genets Apologie, dass revolutionäre Gewalt lediglich eine Antwort auf die Brutalität der bürgerlichen Gesellschaft sei, hätte zeitlich nicht ungelegener kommen können. Argumentativ hat sie dieselbe Funktion wie die These von der systemischen Gewalt (Genet selbst spricht von der „Brutalität des Systems“), gegen die man sich wehren müsse – und ist ähnlich absurd.

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