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#Der leidende Gärtner

Der leidende Gärtner

Botanik ist der ständige Begleiter von Myshkin, wie der Ich-Erzähler in Anuradha Roys neuem Roman „Der Garten meiner Mutter“ gerufen wird. Der nach Dostojewskis „Idiot“ benannte Mann wird nicht müde, das gesamte Buch hindurch immer wieder Bezug auf die Pflanzenwelt zu nehmen. Größe und Herkunft der botanischen Objekte spielen dabei keine Rolle: Vom kleinen Blümchen bis zum majestätisch anmutenden Baum ist alles dabei. Mit ihnen kann der Eigenbrötler deutlich mehr anfangen als mit Menschen, die er mehrmals anhand der Merkmale von Pflanzen oder Landschaften beschreibt. In oftmals pittoresker und, ja, blumiger Manier zählt er verschiedenste Pflanzen auf – manchmal zu Lasten des Lesers, der achtgeben muss, dabei den Überblick zu behalten – und beschreibt ihr Aussehen. Ähnlich führt er ihm anderswo durch detaillierte Beschreibungen Bilder vor Augen.

David Kampmann

Das prägende Ereignis für den Erzähler ist indes nicht so prachtvoll wie die Pflanzen und Bäume, an die er sich klammert. Vielmehr traumatisierte es ihn: 1937 war Myshkin gerade neun Jahre alt, da kehrte seine Mutter Gayatri dem heimischen Dorf am Fuße des Himalajas den Rücken, ließ Mann und Sohn zurück und ging mit dem Künstler Walter Spies nach Bali. Ihren Sohn brandmarkte sie damit als den Jungen, dessen Mutter mit einem „Engländer“ wegging. Dass Spies in Wahrheit Deutscher ist, macht für die Bevölkerung keinen Unterschied: Ein Weißer ist grundsätzlich ein Engländer.

Der Verlust der Mutter bleibt für Myshkin dauerhaft präsent. Beim Erzählen springt er zwischen den Zeiten hin und her und erzählt bis in seine Gegenwart der frühen neunziger Jahre. Über weite Strecken lebt er weiter in der Hoffnung, dass die Mutter zurückkommt, erhält von ihr auch Post. Sinnbildlich für seine Hoffnung steht das Dorf Muntazir, die Drehscheibe der gesamten Handlung. Sein Name bedeutet auf Urdu etwa „mit banger Ungeduld auf etwas warten“. Diese bange Ungeduld empfindet auch Myshkin. Nur einmal verlässt er Muntazir für längere Zeit, um sich als junger Gärtner in New Delhi zu verdingen. Seinen Lebensabend jedoch verbringt er wieder im Dorf.

Alle Illusionen zerstört

Delhi, das er schon als Kind auf Besuch bei der Familie seiner Mutter kennenlernte, beschreibt Myshkin auf abstoßende Weise. Die Stadt ist geprägt von Umweltverschmutzung, die Verwandten mütterlicherseits sind wenig einladend. Die Omnipräsenz des Heimatdorfs wird auf anschauliche Weise deutlich: Sein Name in arabischen Buchstaben schmückt nahezu jedes Kapitel. Zweimal indes nicht; in diesen beiden Kapiteln sind Briefe der Mutter abgedruckt, die sie auf der Reise und aus ihrer neuen Wahlheimat an ihre Freundin Lisa geschickt hat.

Anuradha Roy: „Der Garten meiner Mutter“. Luchterhand. Gebunden, 416 Seiten, 22 Euro.


Anuradha Roy: „Der Garten meiner Mutter“. Luchterhand. Gebunden, 416 Seiten, 22 Euro.
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Bild: Luchterhand Verlag

Die Ehe der Eltern stand von Beginn an unter keinem guten Stern, die Gegensätze könnten krasser kaum sein: die Mutter eine bengalische Hindu aus Delhi, der Vater ein „Anglo-Inder“ aus dem Norden und offensichtlich gebildet. Während er gern Sachbücher liest, findet sie ihr Glück in Romanen. Er bittet sie darum, sich zu benehmen, also den gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu folgen, was sie indes ablehnt. Die in Indien schon immer krassen sozialen Gegensätze werden an einem Punkt besonders deutlich: Myshkins Vater engagiert sich im Streben nach Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht – eine Tätigkeit, die er nach dem Weggang der Mutter durch Abfassen von Artikeln und Kommentaren noch verstärkt. Die Mutter dagegen hat für die Sache weder Interesse noch Leidenschaft aufbringen können. Egal, ob Briten oder Inder: ihrem Mann gegenüber macht sie zynisch deutlich, dass sie unter beiden nicht frei sein könne. Roys Roman macht auf diese Weise unausgesprochen klar, wo die Ursprünge des indischen Unabhängigkeitskampfes lagen: Was schließlich zur Massenbewegung wurde, ging zunächst auf die Initiative von Vertretern der Oberschicht oder einzelnen Intellektuellen zurück.

Der deutsche Titel des Buchs, „Der Garten meiner Mutter“, entfernt sich stark vom englischen Original „All the Lives We Never Lived“. Der bringt eine Sehnsucht zum Ausdruck, die auch den Erzähler Myshkin erfasst hat. Obwohl er den Weggang der Mutter beklagt, bringt er Verständnis für ihre Lage auf und hegt keinen Groll gegen sie. Ihm wird klar, dass sie unglücklich war und ihr Glück andernorts zu finden versuchte. Beim späten Lesen ihrer Briefe an Lisa erleidet er aber ein neues Trauma: Er erfährt von einer Affäre seiner Mutter mit Brijen, dem Onkel seines Kindheit- und Jugendfreundes Dinu, was auch den letzten Rest seiner Illusionen zerstört und ihn die Vergangenheit fortan in paranoider Erinnerung behalten lässt.

Die Melancholie des Erzählers

Roy gelingt es, die Verhältnisse der Handlungszeit einprägsam zu vermitteln. Historische Eckpunkte, die auch das Leben ihrer Landsleute beeinflusst und nachhaltig verändert haben wie etwa der Freiheitskampf oder der Zweite Weltkrieg in Europa und Asien, werden mit all ihren Auswirkungen auch für Myshkins Umfeld zentral – genauso wie für damalige Zeit und Gegenwart bedeutende indische Künstler und Kulturschaffende, unter anderem der Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore. Auch das alltägliche Leben beschreibt die Autorin in allen Details und geht dabei hart mit ihrer Heimat ins Gericht. Die Klassenunterschiede, die bis heute den indischen Alltag prägen, werden in ihren teilweise brutalen Auswirkungen geschildert.

Vor allem jedoch ist das Buch geprägt von der Melancholie des Erzählers, und es endet auch mit dieser. Am Schluss unternimmt der nun betagte Mann mit dem Schiff dieselbe Reise, die seine Mutter ehedem antrat, als sie ihn verließ – nicht ohne in Erinnerungen an sie zu schwelgen.

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