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#Die Aufsässigen

„Die Aufsässigen“

Den Namen des „Mädchens Nr. 1“ weiß man nicht. Aber es hat eine Geschichte. Es „wandert durch die Straßen von Philadelphias Seventh Ward und New Yorks Tenderloin, im Jahr 1900. Sie ist jung und doch so alt und verletzt.“ Saidiya Hartmans Buch beginnt mit einer „Rollenbesetzung“, einer Liste derjenigen, von denen sie auf den folgenden 400 Seiten erzählen wird.

Novina Göhlsdorf

Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

Viele Protagonistinnen sind es und einige Protagonisten. Manche kann man kennen, wie Eleanora Fagan – die spätere Sängerin Billie Holiday – oder den Soziologen W. E. B. Du Bois. Doch die Liste fängt an mit „Mädchen Nr. 1“. Es steht für all die Mädchen und jungen Frauen, denen Hartman eine Hauptrolle gibt, deren Wege durch ihre Viertel und Leben in der Zeit zwischen 1890 und 1935 sie nachzeichnet.

Saidiya Hartman ist Professorin für afroamerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Columbia University in New York, hat jedoch auch außerhalb akademischer Zirkel großen Einfluss, etwa auf politische Aktivisten im Umfeld der „Black Lives Matter“-Bewegung. Jahre vor deren Gründung schrieb Hartman vom „Ausnahmezustand“, in dem sich Schwarzes Leben noch heute befinde und den sie als das „Nachleben der Sklaverei“ bezeichnet. Um die Sklaverei und deren Nachleben dreht sich auch ihr drittes Buch „Aufsässige Leben, schöne Experimente“, das nun auf Deutsch erschienen ist.

Leben im Ausnahmezustand

Darin geht sie der „Geschichte der sozialen Revolution und des Wandels von intimem Leben“ nach, das sich um die vorletzte Jahrhundertwende „in der schwarzen Stadt innerhalb der Stadt entfaltete“. Nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei in den USA zogen viele Schwarze in Großstädte wie Philadelphia, New York City oder Chicago, um die Plantagen im Süden hinter sich zu lassen und die Unfreiheit.

Was sie erwartete, war jedoch eine andere, oft verheerend ähnliche Unfreiheit, waren Armut und Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und Gewalt. Das galt besonders für Mädchen und Frauen. Die meisten konnten sich entweder als Hausangestellte weißer Familien in sklavenartige Abhängigkeit begeben oder prostituieren, wurden bei der Arbeit, auf den Straßen und zu Hause misshandelt oder vergewaltigt.

Hannah Davies, deren Fotografie sich (als „Fall 3499“) in einer Akte des Gefängnisses in Bedford Hills im Bundesstaat New York finden ließ.


Hannah Davies, deren Fotografie sich (als „Fall 3499“) in einer Akte des Gefängnisses in Bedford Hills im Bundesstaat New York finden ließ.
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Bild: New York State Archive

Was sie erwartete, waren winzige, überfüllte, kaum bezahlbare Wohnungen und Zimmer in heruntergekommenen Gegenden, die man „Little Africa“ oder „‚Negro‘-Viertel“ nannte. Im Sinne der gesetzlich verankerten Segregation, der Color Line, wurden diese getrennt gehalten vom Rest der Stadt und entwickelten sich allmählich zu Ghettos, überwacht von Polizisten und Mieteintreiberinnen, Bewährungshelfern, Soziologen und sogenannten Sozialreformerinnen, die Missstände angeblich lindern wollten und sie häufig erst erzeugten.

Was sie nicht erwartete, war eine Zukunft. Hartmans Buch handelt von der umgrenzten Enge in den „Slums“, weißen Haushalten und „Besserungsanstalten“, wo die befreiten Unfreien darum kämpften, zu existieren. Es handelt aber ebenso von ihrem Aufbegehren und Begehren, ihrer Feier des Lebens unter lebensfeindlichen Bedingungen: davon, dem Nichts einen „Funken des Möglichen“ abzutrotzen.

Feier des Lebens unter lebensfeindlichen Bedingungen

Hartman hat Archivmaterial verwendet, es aber entscheidend umgewendet. Auch das Archiv ist, schreibt sie an anderer Stelle, gewaltsam. Es verewigt die Weltsicht der Unterdrückenden und nicht die der Unterdrückten, deren Dasein es meist allenfalls in Gefängnisakten, psychiatrischen Gutachten oder sozialwissenschaftlichen Studien bezeugt, als Objekte der Beobachtung, als Ordnungsstörung und Gefahr.

Hartman bezieht sich auf solche Dokumente, stellt sie jedoch in ihrer Blindheit und Brutalität aus. Und sie füllt die darin klaffenden Lücken mit Erzählungen aus der Sicht derjenigen, denen Subjektivität und Stimme entzogen wurden.

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