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#Die Brüste der Madonna

Die Brüste der Madonna

Und wie ein Kind nach der Mama
die Arme ausstreckt, nach dem Stillen,
und seine Liebe so ganz sichtbar macht;

E come fantolin che ’nver’ la mamma?
tende le braccia, poi che ’l latte prese’?
per l’animo che ’nfin di fuor s’infiamma;

(Paradiso XXIII, 121–123, übersetzt von Christine Ott)

Die Erfahrungen, die dem Jenseitswanderer Dante im Paradies zuteilwerden, sind abstrakt, unbegreiflich, unsagbar. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, überrascht uns Dante mit einer Sprache der Nähe, der Einfachheit. „La mamma“ dürfte nicht einmal jene überfordern, deren Italienischkenntnisse nur fürs vielbeschworene Pizzabestellen ausreichen. Nicht Mutter steht da, sondern „mamma“, reimend auf „infiamma“ (entflammt). Nachdem es an der Brust getrunken hat, streckt das Kind die Arme nach der Mutter aus, und so wird die Liebe, die sein Gemüt bewegt, auch nach außen hin sichtbar.

Ein in Liebe zu Mamas Brust entflammtes Kind mag im 21. Jahrhundert die psychoanalytische Paarung von Nahrung und Erotik aufrufen. Tatsächlich kommen Brüste in Paradiso XXIII dreimal vor. Und dreimal inszeniert der Gesang eine nährende Beziehung zwischen Mutter und Kind: Beatrice ist wie eine Vogelmutter, die ihr Junges (Dante) nähren will, die Musen erquicken die Dichter mit ihrer Milch, die im Paradies weilenden Seligen strecken ihre Flammenkörper hin zur Muttergottes, wie ein Kind die Arme nach der Mutter(brust) ausstreckt. Doch es geht nicht nur um Liebe, sondern um Wortmacht und Wissen, anders gesagt: geistige Nahrung.

Schließlich bezeichneten schon die Kirchenväter die buchstäbliche Bedeutungsebene der Bibel als eine Milchnahrung, die man bedenkenlos auch weniger erfahrenen Lesern verabreichen könne. Überliefert ist aber auch die Legende der Maria lactans, der zufolge Maria die von ihr privilegierten Heiligen mit der eigenen Milch ernährt – sprich: ihnen mystisches Wissen und außergewöhnliche Rhetorik verschafft.

Dass Dante sich selbst als einen dieser Privilegierten sieht, sagt er später, in Paradiso XXX, deutlich. Hier vergleicht er seinen eigenen Wissensdurst mit dem eines Kindes, das sich auf die Mutterbrust stürzt. Ein ungeheuer selbstbewusster Vergleich, wenn man sich klarmacht, dass jene metaphorischen Brüste eben die der Muttergottes sind. Der Autor der Commedia ist ja auch an anderer Stelle nicht eben bescheiden; besonders dann nicht, wenn es um die eigene Dichtkunst geht.

Doch es ist auch ein demütiger Vergleich, denn der Jenseitswanderer ist hier hilflos und sprachlos wie ein kleines Kind. Es scheint, als sei die Gottesschau, die Dante am Ende des Paradiso erfährt, nur um den Preis einer kognitiven und sprachlichen Regression möglich. Der Dichter fällt zurück in kindliches Lallen („mamma“), der Wanderer in kindliche Gier. Diese Gier ist bedingungslose Liebe und völliges Ausgeliefertsein, weil von ihr das Überleben abhängt. Das kaum Fassbare – die Vision Christi in Paradiso XXIII, der Lichtstrom in Paradiso XXX – wird von Dante mit einer Erfahrung verglichen, die (ob Brust oder Fläschchen) jede/r von uns gemacht hat.

In Italien streitet man gerade darüber, ob man Dante aktualisierend lesen, ihn zum Zeitgenossen machen dürfe. Die Hüter der Tradition plädieren dafür, den Autor der Commedia in seiner historischen Distanz nicht anzutasten. Dante hätte das nicht gewollt. Er wollte, um es mit Lino Pertile zu sagen, ein populärer Autor sein. Einer, der auch mal „merda“ sagt – oder „mamma“. Und einer, den alle verstehen können. Deshalb wählte er für seine Komödie die Volkssprache. Auf die Vorwürfe seines Bewunderers Giovanni del Virgilio, er werfe damit Perlen vor die Säue, antwortete Dante in zwei lateinischen Eklogen. Darin ist von Schafen die Rede und auch wieder von Milch – und Brot. Doch das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.

Christine Ott lehrt Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main.

Alle bisherigen Folgen unserer Serie finden Sie www.faz.net/dante.

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