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#Die Klage der Kraniche

Die Klage der Kraniche

Und wie die Kraniche mit Klagetönen
Die Lüfte rasch durchziehen in langen Fahnen,
So sah ich kommen unter lautem Stöhnen
Die Schatten auf des wütigen Windes Bahnen.

E come i gru van cantando lor lai,
facendo in aere di sé lunga riga;
così vid’io venir, traendo guai,
ombre, portate dalla detta briga;

(Inferno V, 46–49)

Dantes Vögel sind trostlose Tiere, oiseaux tristes, wie jene Ravels, nur dass ihnen nicht einmal die Stille einer bleiernen Zeit gegönnt ist. Die Stare, gehetzt vom Frost des Winters, werden Dante zum Gleichnis für die Rastlosigkeit der Sünder, denen der wirbelnde Höllenwind keine Ruhe gönnt. Der Laut der Kraniche gleicht ihrem Stöhnen in der Haltlosigkeit. Die Stöhnensgemeinschaft zwischen Mensch und Tier, die Dante im fünften Canto seiner „Hölle“ beschreibt, steht im Licht einer Theologie von der Erlösungbedürftigkeit der gesamten Schöpfung, die Paulus im achten Kapitel des Römerbriefes andeutet, wenn er vom ängstlichen Harren der Kreatur schreibt, denn „alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar“.

Verworfen ist damit die Idee einer natürlichen Theologie, die in der Schöpfung selbst die Offenbarung von Gesetz und Ordnung sehen will. Gehetzte Stare und klagende Kraniche künden nicht vom geduldigen Ruhen in der Schwere, von dem Rainer Maria Rilke später träumen wird, wenn er den Menschen anklagt, „der sich vermaß, den Vögeln allen im Fliegen es zuvorzutun“. Noch dem Propheten Jeremia war im Alten Testament der Vogelflog ein Gleichnis für Gottesgehorsamkeit und Umkehrbereitschaft: „Ein Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, eine Turteltaube, Kranich und Schwalbe merken ihre Zeit, wann sie wiederkommen sollen, aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen“.

Dante stellt nun Vögel und Sünder gleich. Darin ist er denkbar unromantisch. Die Natur ist ihm nicht Ausflucht aus dem Schuldzusammenhang, kein Therapeutikum für menschliches Versagen. Spätere Zeiten hielten diesen Sündenradikalismus nicht aus. „Wie ein Vogel zu fliegen, in die Wolken hinein, ja, das wär’ ein Vergnügen, möcht’ ein Vogel wohl sein“, heißt es in einem Kinderlied von Walter Krumbach, dessen Glücksversprechen in der kreatürlichen Immanenz man nicht dem Staatsatheismus der DDR, wo es entstand, anlasten kann. Denn schon Rilke sah, am „Abend in Skåne“, in den Wolkenformationen ein verheißungsvolles „Tor in solche Fernen, wie sie vielleicht nur Vögel kennen“.

Dante dienen die Vögel in ihrem Hetzen und Klagen als Sinnbild der Hölle. Hölle heißt: haltlos sein. „Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?“, lässt Friedrich Nietzsche seinen tollen Menschen fragen, der verzweifelt glaubt, das Gott tot sei. Physikotheologisch gesprochen bedeutet Gottlosigkeit also Aufhebung der Schwerkraft. Sergej Rachmaninow übersetzt diesen Zustand musikalisch in die Aufhebung der Tonalität am Anfang seiner Oper „Francesca da Rimini“ nach dem Canto V aus Dantes „Hölle“. Nach dem kranichhaften Stöhnen von Klarinetten, Hörnern und Bratschen, stöhnt der sprachlos gewordene Chor der Sünder. Es entspinnt sich eine Fuge ohne tonales Zentrum. Sie klingt zuweilen, als hätte man den Eingangschor von Bachs Matthäuspassion – „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ überlagert vom Passionschoral „O Lamm Gottes, unschuldig“ – aus der Verankerung gerissen und in ein unendliches Nichts geschossen. Musik einer radikalen Gottesferne, den klagenden Kranichen Dantes abgelauscht, eine Zumutung annehmend, die noch heute Teil des Gebets beim Schuldeingeständnis ist: „Denn wir haben keine Zuflucht als dein unergründliches Erbarmen.“

Alle bisherigen Folgen unserer Serie finden Sie unter www.faz.net/dante.

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