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#So knapp wie möglich

So knapp wie möglich

Odysseus befährt leichtsinnig das Weltmeer und kommt darin um. Aber seine Strafe besteht nicht darin, dass er im Meer versinkt. Sein Fehler besteht nicht darin, dass er eine riskante und unnötige Ausfahrt wagt; die fand Dante vernünftig und sympathisch. Sie sagt etwas über die Natur des Menschen: Er will wissen. Odysseus, der Heerführer, wird wegen einiger Kriegsverbrechen vor Troia zu Recht mit ewiger Höllenstrafe belegt. So gerät leicht in wildes Gewässer, wer sich hinaustraut auf das Meer von Dantes Komödie.

Man sollte es vielleicht doch einmal versuchen, und man kann ruhig auch mit der Hölle beginnen. Sie ist nicht der schönste Teil des Weltgedichts, aber sie bringt diese gewaltigen Szenen: die Ermordung der Ehebrecherin Francesca von Rimini (Canto 5), die gefährliche Ausfahrt des Odysseus, die Dante lobt (Canto 26), und die grauenhafte Geschichte des Grafen Ugolino im Hungerturm (Canto 33). (Ich sage lieber: Canto. Das Wort „Gesang“ ist zwar korrekt, gibt dem Wort aber bei uns einen falschen Klang.) Sie geben einen realen Eindruck von der Dichtkunst Dantes. Damit kann man eine Weile leben. Dann strebe man auch nicht gleich zum Höhepunkt, zum Paradiso. Es ist arg verwickelt mit Astronomie und Theologie, manche verlieren darüber Beatrice aus dem Blick. Außerdem befindet dieses Stück sich oft fest in der Hand von kommentierenden Betschwestern, die in frommer Absicht den Leser irreführen. Sie finden hinter jedem Strohhalm etwas Religiöses. Also: Vorsicht beim Betreten des Paradiso. Das hebe man sich für später auf; ich schlage einen schlichteren Weg vor. Man durchdenke eine kleine Szene. Hier für diese Lesart ein Beispiel.

Dante spart Worte, wo andere geschwätzig sind

Wir treffen Dante im Purgatorio. Das ist kein Fegefeuer. Dort brennt kein Feuer, sondern es ist ein steiler Berg. Die Seelen der Verstorbenen denken beim Aufstieg über ihr Leben nach. Sie reinigen sich von ihren Schwächen und Fehlern, indem sie über sich nachdenken und sich mit dem Blick auf das richtige Leben selbst korrigieren. Es wird ihnen nichts von außen zugefügt. Im fünften Canto trifft Dante die Seelen von Ermordeten. Zwei Männer erzählen dramatisch von ihrer Tötung und von dem schrecklichen Schicksal ihrer Leiche. Nach ihnen meldet sich eine Frau zu Wort. Sie sagt zu Dante: „Ach du, wenn du wieder zurück bist in der Welt und wenn du dich ausgeruht hast von dem weiten Weg, … dann erinnere dich an mich. Ich bin die Pia. Siena brachte mich hervor, die Maremma brachte mich um. Der Mann weiß das – einst hat er mir den Ring angelegt und mit seiner Gemme mich zu seiner Frau gemacht.“

Dante spart Worte, schon frühe Kommentatoren wurden hier geschwätzig. Sie träumten von einem Schloss, dazu gehörte dann auch ein Graf als Mörder. Von ihrem Mann heißt es, dass er es weiß, dass er also noch lebt. Er könnte den Mord ja nur gesehen haben, der Text schließt das nicht aus. Wir werden nicht näher informiert. Es bleibt ein Rest kunstvoll erzeugter Unsicherheit, obwohl wir nicht schwanken. Wir sind im Kreis der Ermordeten. Bei Dante hören wir nur von der vertrauten Stadt Siena und vom Tod in den berüchtigten wilden Maremmen. Aber wie knapp ist das gesagt: mi fé – disfecemi. Kürzer kann man eine Mordgeschichte nicht erzählen.

Warum will Pia, dass er sich nach der Reise an sie erinnert? Schon eilen wieder Betschwestern herbei und versichern, sie wolle, dass lebende Menschen für sie beten. Das erbitten viele Seelen in vergleichbarer Situation, das entspricht katholischer Doktrin, und Dante ist ein katholischer Dichter, richtig, aber will sie das? Dante sagt es jedenfalls nicht. Vielleicht will sie nur, dass ihr Schicksal nicht ganz unbekannt bleibt. Der Mord ist draußen in der Maremma ohne Zeugen geschehen. Dante sagt nichts von einem Schloss. Er erzeugt ein Dämmerlicht, eine angstvermehrende Zweideutigkeit. Es ist wie in Ugolinos Verlies: Wir ahnen, dass es zum Kannibalismus kam, Dante sagt es nicht.

Guter Rat an Italiens Männer

Aber bei dieser Wortkargheit Dantes fällt ein besonderer Zug auf: Pia will ihn nicht zur Eile drängen. Sie stürzt mit ihrer Bitte nicht auf ihn ein, sondern will, dass er sich von der langen Reise erst erhole. Diese Nachsicht ist unrealistisch; er könnte sich auf dem Rückweg leicht an sie erinnern. Der Hinweis sagt etwas über sie: Sie hat feine Umgangsformen. Sie fordert nicht, sie bittet einfühlsam. Dante als Erzieher Italiens gibt robusten Männern den Rat, nicht imperativ aufzutreten. Er zeigt uns Pia als zartfühlende Frau. Um so brutaler fühlen wir ihre Ermordung. Sie heißt Pia, und sie geht den Läuterungsberg hinauf und sollte ihre Sünden bereuen. Aber davon kein Wort. Dante macht keine Heilige aus ihr. Sie ist nur eine Frau mit hartem Schicksal. Man lehrt die Studenten, bei Dante seien Namen bedeutungsvoll. Sie heißt Pia, aber diese Spur führt zu nichts. Sie gibt ihrem Leiden keinen höheren Sinn. Müsste sie nicht als „Fromme“ auf dem Erlösungsweg ihrem Mörder verzeihen?

Sie tröstet sich nicht mit dem Paradies, das ihr bevorsteht. Sie spricht nicht über ihr Inneres. Ihr Schicksal ist abgeschlossen. Daher die Kürze. Sechs Zeilen – kein Zorn, keine sanfte Ergebenheit in den Willen Gottes. Sie ist nur Opfer. Aber in der Opferrolle ist sie als Frau nicht erstarrt. Das zeigt ihr Mitgefühl mit Dantes Mühsal beim Rückweg.

Ich muss hier abbrechen. Ich würde sonst zu wortreich. Hier geht es um Dantes Kunst der Wortsparsamkeit.

Kurt Flasch, geboren 1930, ist Philosoph und Übersetzer, auch von Dantes Commedia.

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