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#Die Psychologie hinter dem wütenden Mob

„Die Psychologie hinter dem wütenden Mob“

Ein Tatort kann oft noch Jahre nach dem Verbrechen neue Erkenntnisse liefern. Deswegen ist er für einen Ermittler ein so zentraler Ort. „Aber das hier ist Okriki. Der Tatort ist eine kleine Lichtung abseits einer Schotterstraße, gerade mal zwölf Minuten holprige Fahrt vom Polizeirevier entfernt. Es gibt keine Häuser in der Nähe. Auch keine Straßenlaternen oder Kameras. Gar nichts.“ Ausgerechnet dieses gottverlassene Fleckchen geht in den sozialen Medien viral, als ein brutaler Lynchmob dort drei des Diebstahls bezichtigte Studenten jagt, mit Autoreifen behängt, mit Benzin übergießt, anzündet und alles filmt.

Inzwischen ist der Fall offiziell abgeschlossen, ein paar Mittäter stehen vor Gericht. Aber den investigativen Psychologen Dr. Philip Taiwo interessiert weniger, wer die Täter waren, sondern vielmehr die Frage nach dem Warum. Beauftragt von einem der trauernden Väter, um endlich das über Jahre angesammelte theoretische Wissen über die kollektive Psyche von Lynchmobs praktisch anzuwenden, ähnelt er nicht zufällig seinem Erschaffer. Femi Kayode ist selbst klinischer Psychologe und schrieb „Lightseekers“ angelehnt an den online verstörend vollständig dokumentierten Fall der „Aluu Four“, die 2012 in einem Vorort der nigerianischen Hafenstadt Port Harcourt als vermeintliche Diebe einem Lynch­mob zum Opfer fielen.

Weit mehr als ein Quantum Lokalkolorit

Kayode legt sein Debüt als breite Analyse der Probleme in seinem Heimatland an und bringt ganz unterschiedliche Dinge zur Sprache: Korruption und Drogenhandel, die grassierende Bandengewalt und das Kultwesen, eine teils miserable Infrastruktur und Grundversorgung sowie Konflikte zwischen den Religionen, vor allem aber ein mangelndes Verantwortungsgefühl auf sämtlichen Verwaltungs- und Regierungsebenen. Besonders für Letzteres ist der Lynch­mob ein starkes Symbol: ein Verbrechen, bei dem durch die Dynamik der Ereignisse und die schiere Menge der Beteiligten nicht nur die Verantwortung für das Geschehen verwässert wird, sondern sich hinterher auch alle gegenseitig decken.

Femi Kayode: „Lightseekers“. Thriller.


Femi Kayode: „Lightseekers“. Thriller.
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Bild: btb Verlag

Dabei gibt Kayode Einblicke in die nigerianische Kultur, die weit über ein Quantum Lokalkolorit hinausgehen. Dr. Taiwo bezieht seine Erkenntnisse aus spezifischen kulturellen Nuancen, etwa den Implikationen gängiger Höflichkeitsformen in der Anrede, den Unterschieden und Spannungen zwischen verschiedenen Landesteilen. Als sogenannter Americana ist er dafür der ideale Protagonist: Der Begriff, vielen bekannt geworden durch Chimamanda Ngozi Adichies Bestseller „Americanah“, bezeichnet Nigerianer, die einen Großteil ihres Lebens in Übersee verbracht haben.

Der Abstieg in die ganz persönliche Hölle

Dr. Taiwo ist ein Einheimischer, seine Jahre an amerikanischen Universitäten haben ihm aber eine gewisse Distanz verschafft, und dass er in Okriki alte Wunden wieder aufzureißen droht, rückt ihn umso weiter in die Außenseiterposition. Unentwegt arbeitet er sich am Vergleich beider Staaten ab, seinen Erfahrungen mit dem systematischen Rassismus, der damit einhergehenden Polizeiwillkür. Einmal kommt ein nigerianisches Gesetz gegen Homosexualität zur Sprache, das die Bürger dazu anstachelt, sich gegenseitig auszuspionieren – und man kommt nicht umhin, auch an die texanischen Kopfgeldklauseln zu denken, die Privatpersonen mit finanziellen Anreizen dazu ermutigen, Verstöße gegen das Abtreibungsgesetz anzuzeigen.

„Lightseekers“ gibt in seinen vier Akten – bis auf einige kurze Kapitel, die in Kursivschrift dem Abstieg eines geheimnisvollen Ich-Erzählers in seine ganz persönliche Hölle folgen – die Recherchen von Dr. Taiwo und seinem Assistenten Chika wieder und wandelt sich dabei immer mehr zu einer klassischen, an Twists und falschen Fährten reichen Privatermittlerstory. Zuweilen verschenkt Kayode damit Potential: Dafür, dass Taiwos analytische Fähigkeiten zu seinen größten Stärken zählen, setzt er sie recht selten ein. Womöglich stecken einfach ein paar Ideen zu viel in diesem Thriller, wenn sich auch die offensichtliche Schreibfreude des Autors eins zu eins ins Lesevergnügen überträgt.

Seine vier Akte etwa leitet er durch je einen Zweizeiler über die physikalischen Eigenschaften des Lichts ein. Noch eine passende Symbolik, unter anderem, weil Kayode die in Nigeria notorischen Stromausfälle als Stilmittel zu nutzen versteht. „Licht strahlt in verschiedene Richtungen ab, wenn es auf eine raue Oberfläche trifft“, heißt es gleich zu Beginn, und damit ist die Stimmung vorgegeben: „Lightseekers“ ist ein ungeschliffener Edelstein, der, sobald man ihn eingehend betrachtet, sein ungestümes Glimmen offenbart.

Femi Kayode: „Lightseekers“. Thriller. Aus dem Englischen von Andreas Jäger. Btb Verlag, München 2022. 464 S., br., 16,– €.

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