#Die zwei Lager gibt es nicht
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„Die zwei Lager gibt es nicht“
Sind die europäischen Gesellschaften tatsächlich gespalten in jeweils zwei Lager des „kosmopolitischen Oben“ und des „kommunitaristischen Unten“? In Globalisierungsgewinner und Verlierer? Oder in politischen Präferenzen gesprochen: in die grün-alternativen Akademiker in den Metropolen und die konservativ bis national wählenden Anhänger der rechtspopulistischen Parteien?
In der Sozialforschung herrscht darüber Uneinigkeit. Die Gretchenfrage des Faches, was die Gesellschaft (eigentlich noch) zusammenhalte, wird immer wieder mit dem Verweis auf ebendiese angebliche Spaltung beantwortet: Immer weniger hält sie zusammen, weil die Gemeinsamkeiten dieser beiden Lager immer geringer würden. Dann müssten also alle sozialen Dimensionen von Ungleichheit zunehmen. Um das zu überprüfen, haben jetzt Thomas Lux, Steffen Mau und Aljoscha Jacobi sechs europäische Länder anhand vier Achsen möglicher Ungleichheitskonflikte innerhalb ihrer Bevölkerungen untersucht. Sind die dabei vielleicht auffindbaren Spaltungslinien in den Einstellungen länderübergreifend ähnlich ausgeprägt oder gibt es nationale Spezifika?
Betrachtet man das Sample der Studie – Italien, Frankreich, Schweden, Deutschland, Polen und Ungarn – und die Auswahl der Themen, sollte man starke Unterschiede erwarten dürfen: Die „Oben-Unten-Ungleichheit“ beschreibt die klassische Frage nach der Verteilung von Bildung und Einkommen. „Innen-Außen“ betrifft den „Kampf um Grenzen“ in Hinblick auf den Streit um Migration und die Zukunft des Nationalstaates. „Wir-Sie“ soll die Themen der Identitätspolitik abdecken, also etwa die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Und schließlich die „Heute-Morgen-Ungleichheit“, die auf das Feld von Ökologie und Nachhaltigkeit zielt. Nimmt man diese vier Ungleichheitsachsen in den Blick, erhalte man ein Panorama der aktuellen Konflikte innerhalb dieser Gesellschaften.
Aber haben sie wirklich eine sozialstrukturelle Verankerung oder sind sie davon abgekoppelt? Im letzteren Fall könnte man wohl von aktuellen politischen Konflikten, aber sicher nicht von längerfristigen Spaltungslinien in der Gesellschaft sprechen, so die Autoren. Für ihre Analyse benutzten sie Daten aus der achten Welle des European Social Survey (ESS), für die 2016 und 2017 in Privathaushalten Lebende im Alter von über 15 Jahren befragt wurden.
Die These von den zwei Lagern könnte ihre Daten nicht bestätigen, schreiben Lux, Mau und Jacobi. Die Gleichheit der Einstellungen sei überall größer als der Dissens darüber. Aber es gibt Ausnahmen, vor allem zwischen den Ländern: In Deutschland, Frankreich und Schweden sieht ein weitaus größerer Teil der Befragten „Wir-Sie-Ungleichheiten“ viel kritischer als in Ungarn und Polen. Deutsche, Franzosen und Schweden wollen also eine größere Gleichheit homo- und heterosexueller Paare, während die Befragten in Ungarn und Polen hier gerade die Anerkennung und Betonung der Ungleichheit zwischen diesen Partnerschaftsformen wollen. Generell gelte: je niedriger der soziale Status eines Befragten, desto kritischer die Haltung zu ökonomischer Ungleichheit in der Gesellschaft.
Am stärksten ist die Polarisierung noch beim Thema Migration
Genau umgekehrt die Strukturierung bei den neueren Ungleichheitsthemen: je höher der Status, desto offener die Einstellung zu Migration und sexuellen Minderheiten. Aber von einer statusmäßigen Polarisierung der Gesellschaft wollen die Autoren nach ihren Befunden nicht sprechen. Am ehesten ließe sich das noch beim Dauerbrenner Migration feststellen, aber beim Klimawandel und der sexuellen Diversität fänden sich solche Polarisierungen nur in Ansätzen.
Der statusmäßig am stärksten polarisierte Einstellungskomplex, die Haltung zur Migration, lasse sich am besten durch die Variablen soziale Klasse, Bildung und Einkommen erklären, also die klassische vertikale Schichtung der Gesellschaft. Bei den Positionen zur „Wir-Sie-Ungleichheit“ dagegen sei die horizontale Strukturierung stärker: also nicht das Ökonomische, sondern Alter, Geschlecht und Urbanitätsgrad. Beim klassischen Thema der ökonomischen Ungleichheit zwischen unten und oben seien die Migrationsbefürworter hingegen „affirmativer“. Man könnte auch sagen, wer Migration bejaht sieht in ökonomischer Ungleichheit kein Problem. Grundsätzlich gehe aber nur von der Migrationsproblematik eine echte polarisierende Wirkung aus, also die eher gleichmäßige Besetzung der Haltungspole dazu. Die Unterscheidung zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen sei mehr eine von Idealtypen, aber nicht Realtypen. Den großen Graben gebe es nicht.
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