#Dieser Krieg, jener Krieg
Inhaltsverzeichnis
„Dieser Krieg, jener Krieg“
Es geschah im Februar und März in den Straßen nahe dem Hauptbahnhof von Kiew. Ija Rudsyzka, Jahrgang 1930, hatte in ihrer Heimatstadt schon einmal einen Krieg ausbrechen sehen, schon einmal die Sirenen gehört. Damals, als die Deutschen kamen, als die Flugzeuge mit dem schwarzen Kreuz 1941 über Kiew flogen. Jetzt, Frau Rudsyzka ist inzwischen 92, hat sie es noch einmal erlebt. Diesmal kamen die Flugzeuge mit dem roten Stern, den die russische Armee von der sowjetischen übernommen hat, und warfen ihre tödliche Fracht. Damals, als sie noch ein Kind war, packte ihr Vater sie und zerrte sie rechtzeitig in einen Evakuierungsbus Richtung Osten. Diesmal drängte ihr Sohn sie zur Evakuierung Richtung Westen. „Nein“, sagt Ija Rudsyzka resolut, „ich wollte absolut nicht weg. Ich hing an allem, was ich hatte.“
So blieben sie noch drei Wochen in Kiew, Ija und ihr Sohn Artur Rudsyzkyj. Frau Rudsyzka lebte allein in ihrem Wohnblockapartment, „seit sechzig Jahren sind meine Nachbarn und ich hier, jetzt in diesem Krieg halfen wir einander aus mit Lebensmitteln, freiwillige Helfer verteilten Brot, so wollten wir uns weiter aneinander festhalten.“ Einmal klirrten beim Beschuss der Stadt ihre Fenster. Mehrmals hörte sie nachts Schießereien; da waren russische Sabotagetrupps, so vermutet sie, bis in die Innenstadt vorgedrungen. Am Morgen lagen dann ukrainische Soldaten tot auf dem Asphalt. Das Schicksal der Hauptstadt und damit wohl des ganzen Landes, es hing zu Beginn des Krieges an einem seidenen Faden. Eines Tages rief die israelische Botschaft an; Rudsyzka stand als Holocaustüberlebende dort auf einer Liste. „Morgen um 12 Uhr kommt ein Bus zur Synagoge“, hieß es. Es war die Brodskyj-Synagoge im Zentrum Kiews, an der ihr Großvater einst Rabbiner gewesen war. Es war der letzte Bus.
So begann Ija Rudsyzka, die ihre Wohnung seit vier Jahren nicht mehr verlassen hatte, in diesem Krieg eine Reise, die über etwa zweitausend Kilometer führen sollte, und die bis heute nicht zu Ende ist. „Überall in der Stadt waren diese Panzerigel, Panzersperren, wie ich sie von jenem Krieg noch in Erinnerung hatte“, erzählt sie. An der Synagoge: Helfer mit Maschinenpistolen sicherten das Gelände, Ukrainer, die über Nacht zu Soldaten geworden waren. Der Bus mit vierzig oder fünfzig Leuten, Juden und Nichtjuden, fuhr los, eskortiert von der Polizei. Die Fahrt dauerte achtzehn Stunden, „und die ganze Zeit dachte ich nur: Wann kannst du wieder nach Hause?“ Schließlich erreichte der Bus die Republik Moldau.
Ija Rudsizka, eine 92 Jahre alte Jüdin, musste zum zweiten Mal in ihrem Leben vor dem Krieg aus Kiew fliehen.
:
Bild: Agata Szymanska-Medina
Erst eine Sporthalle, Matratzenlager. Dann ein Zimmer, dank einem hilfsbereiten Hotelbesitzer. Ein paar Tage später wieder eine Busfahrt, diesmal 48 Stunden lang, nach Litauen. „Ich habe nichts gegessen, nichts getrunken, damit ich nicht auf die Toilette musste.“ Sieben Stunden dauerte die Wartezeit an der rumänisch-ungarischen Grenze, wo die Schengenzone beginnt. Immerhin: Aus Vilnius hatte sich ein Facebook-Bekannter gemeldet, ein an jüdischer Kultur interessierter Litauer. Er brachte die beiden Kriegsflüchtlinge im Zimmer seiner verstorbenen Mutter unter. Dort blieben sie zwei Monate. Besonders schmerzlich hat sich ihnen eingeprägt, dass die jüdische Gemeinde auf ihre Bitte um Hilfe nicht reagierte. „Auch jüdische Gemeinden in Deutschland waren abweisend“, sagt Artur Rudsyzkyj. „Eine antwortete: „Bei Einzelfällen helfen wir nicht. Kommen Sie, ein Zimmer werden Sie schon finden, dann wird man sehen.“
Vor den Deutschen floh die Familie nach Zentralasien
Ein Hoffnungszeichen kam im Mai von einer jüdischen Stiftung in Polen. Wieder stiegen Ija Rudsyzka und ihr Sohn in einen Bus. In Warschau bekamen sie ein Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft. Im Herbst dann ein freundliches Zimmerangebot aus Krakau, mit Blick auf den Wawel, die alte Königsburg.
Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.
Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.
Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.