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#„Dieser Modellversuch war kein Spiel mit dem Tod“

„Dieser Modellversuch war kein Spiel mit dem Tod“

Seit Mitte März erlaubte Tübingen besondere Freiheiten in der Pandemie. Wer bereit war, einen Corona-Schnelltest zu machen, der bekam einen QR-Code und konnte dann einkaufen gehen. Weil das attraktive Angebot des Modellprojekts „Öffnen mit Sicherheit“ Einkaufstouristen aus anderen Städten in die baden-württembergische Universitätsstadt lockte, begrenzte die Stadt den Zugang nach kurzer Zeit auf Einwohner des Landkreises Tübingen, vom 6. April wurde auch die Außengastronomie wieder geschlossen, um die Ausflugsattraktivität zu mindern.

Rüdiger Soldt

Viele Wochen gelang es der Universitätsstadt aber, die Sieben-Tage-Inzidenz niedriger zu halten, als in fast allen anderen Regionen des Landes und auch im Landkreis Tübingen. In dieser Woche lag sie im Landkreis bei 187,2 und für die Stadt Tübingen bei 106. Nach dem Inkrafttreten des Vierten Bevölkerungsschutzgesetzes in dieser Woche kann das Tübinger Pilotprojekt angesichts einer Inzidenz von über 100 nicht fortgesetzt werden. Ausnahmen sind nicht möglich. Von Montag an gilt in Tübingen ein harter Lockdown.

„Die Menschen wollen nicht mehr eingesperrt sein“

Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) und der Leiter der wissenschaftlichen Begleitstudie des Modellversuchs, der Tropenmediziner Peter Kremsner, bedauern die Aussetzung des Modellversuchs sehr: „Wir haben durch die kontrollierten Öffnungen kein zusätzliches Infektionsgeschehen entfacht, die Rate von positiv Getesteten oszillierte etwas, sie stieg durch das Öffnen nicht signifikant“, sagte Kremsner der F.A.Z. Dadurch, dass man mittels der Schnelltests pro Woche dreißig bis vierzig symptomfreie Tübinger mit einer SarsCov-2-Infektion festgestellt habe, sei die Inzidenz leicht in die Höhe geschnellt. Bei einer Fortführung des Modellversuchs, sagte Kremsner, hätte er gern noch untersucht, wie zuverlässig Corona-Schnelltests im realen Leben sind.

Kremsner hält wenig von den ständigen, weiteren Verschärfungen des Lockdowns. „Wir sollten jetzt alle Menschen, die älter als 60 Jahre sind, konsequent impfen und dann alles öffnen. Die Menschen wollen nicht mehr eingesperrt sein.“

Die FDP im Bundestag hatte bei den Beratungen zur Novellierung des Gesetzes vorgeschlagen, Modellversuche zu ermöglichen, der Antrag fand aber keine Mehrheit. Boris Palmer forderte die Bundeskanzlerin per Brief auf, über eine Ausnahme nachzudenken und rechtlich prüfen zu lassen, ob sie möglich wäre. „Wenn wir eine kreisfreie Stadt mit einer Inzidenz unter 100 wären, könnten wir weiter machen, so geht es nicht. Ich habe der Kanzlerin meinen Wunsch vorgetragen, bisher habe ich keine Antwort bekommen“, sagte Palmer der F.A.Z.

Deshalb könnten die Bürger in Tübingen am Samstag noch einmal einkaufen und sich in der Stadt frei bewegen, von Montag an gelte dort dann ein „ganz harter Lockdown“. Dann seien nicht nur die Geschäfte geschlossen, sondern auch Schulen und Kitas. „Das passiert eigentlich ohne Not“, sagte der grüne Oberbürgermeister.

Federle: Unterbrechung nimmt Menschen die Hoffnung

Die Stadt hatte in dem Modellversuch pro Woche bis zu 40.000 Personen getestet. Mit einem Corona-Schnelltest untersucht wurden nicht nur die Besucher, sondern regelmäßig auch Schüler, Kinder in den Kitas sowie die Mitarbeiter vieler Firmen. Ziel des Modellversuchs war es auch, ein möglichst genaues Bild über die Ausbreitung der Sars-Cov-2-Pandemie zu bekommen.

Lisa Federle, die Pandemie-Beauftragte Tübingens, sagte: „Dieser Modellversuch war kein Spiel mit dem Tod. Unsere Inzidenz war immer nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt. Es wäre schön gewesen, noch mehr Daten über das Infektionsgeschehen zu bekommen“, sagte die Ärztin. Das wäre mit Blick auf einen möglichen weiteren Lockdown wichtig gewesen, man könne derzeit nicht wissen, welche Folgen eine mögliche Ausbreitung der indischen Virusvariante für Deutschland im Sommer haben könnte. Außerdem nehme die Unterbrechung des Modellversuchs den Menschen die Hoffnung.

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Kritiker führen gegen den Modellversuch zwei Argumente ins Feld: Die hohe Testfrequenz verursacht auf Dauer hohe Kosten. Sie liegen pro Woche für eine Stadt mit 90.000 Einwohnern etwa bei 450.000 Euro. Die relativ niedrige Sieben-Tage-Inzidenz könnte auch mit der Bevölkerungs- und Sozialstruktur Tübingens zusammenhängen: Ein Drittel der Einwohner der baden-württembergischen Stadt sind Studenten, sie halten sich größtenteils wegen der Pandemie gar nicht in Tübingen auf und studieren Online.

Der höhere Bildungsgrad, das Fehlen eines Prekariats und einer Arbeiterschaft dürften die Ausbreitung der Pandemie ebenfalls eher bremsen; Industriestädte wie Mannheim oder Heilbronn haben immer höhere Inzidenzwerte. Allerdings ist es auch Tübingen nicht vollständig gelungen, Infektionseinträge aus dem Umland in die Stadt zu verhindern.

Boris Palmer konnte durch den Modellversuch und zahlreiche Talk-Show-Auftritte sein Image wieder verbessern, auch innerhalb seiner Partei. Der Landesvorstand der baden-württembergischen Grünen hatte ihn Mitte vergangenen Jahres aufgefordert, die Partei zu verlassen und bekundet, dass man ihn bei der kommenden Oberbürgermeisterwahl nicht mehr unterstützen werde.

Der Grund war eine Aussage im Fernsehen über den Schutz hochbetagter, kranker Menschen vor dem Virus. Palmer hatte die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen in Frage gestellt. Im Herbst wollen die Tübinger Grünen auf einer Kreismitgliedersammlung entscheiden, ob sie Palmer bei der Oberbürgermeisterwahl 2022 noch einmal auf den Schild heben und unterstützen.

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