„Die mystische Orgel“ von Charles Tournemire auf CD

Im Dezember 2022 wurde Charles Tournemire einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als das Theater Ulm nach 96 Jahren dessen Oper „La légende de Tristan“ endlich zur Uraufführung brachte – ein zartes, visionäres Werk, denkbar weit von Richard Wagner entfernt, am Triebleben der Menschen gar nicht, an deren Seelen umso mehr interessiert, ein musikalisch kühnes Epos vollkommen spiritualisierter Liebe, Meeresgegenwart und Jenseitssehnsucht.
Doch Organisten kennen Tournemire längst. Er genießt unter ihnen eine geradezu ekstatische Verehrung wegen seiner harmonischen Abenteuerlust und seiner spieltechnischen Tollkühnheit. Charles Tournemire ist das Zentralmassiv in der Orgelliteratur Frankreichs im frühen 20. Jahrhundert und der eigentliche Vater einer modernen katholischen Intelligenz in der Musik, als deren prominentester Vertreter gemeinhin Olivier Messiaen gilt. Von Tournemire, der 1870 in Bordeaux zur Welt gekommen und noch als halbes Kind der Lieblingsschüler von César Franck in Paris geworden war, haben alle Protagonisten der französischen Orgelmoderne, Marcel Dupré, Jehan Alain, Maurice Duruflé und vor allem Messiaen gelernt.

Das Label Brilliant Classics hat auf fünf CDs eine vergriffene Aufnahme des Organisten Tjeerd van der Ploeg wieder aufgelegt, die 24 der insgesamt 51 Sätze aus „L’Orgue Mystique“ vereint, jenem siebzehnstündigen Zyklus liturgischer Musik für die Sonntage des Kirchenjahres, den Tournemire in den Jahren 1927 bis 1932 auf dringende Bitten seines Kollegen Joseph Bonnet zusammenstellte.
Denn Tournemire – seit 1898 Organist an der Pariser Kirche Sainte Clothilde, wo zuvor schon sein Lehrer Franck und Gabriel Pierné Dienst getan hatten – pflegte während der Heiligen Messe über die entsprechenden Gregorianischen Choräle des jeweiligen Sonntags so erstaunlich wie klug zu improvisieren, dass seine Kollegen und Schüler es bedauert hätten, wenn dieser Erfindungsgeist nicht dokumentiert worden wäre. Mit Ausnahme der Adventssonntage und fast aller Sonntage der Passionszeit (wenn die Orgel, bis auf den Sonntag Laetare, schweigt) hat Tournemire für jeden Feiertag entsprechend den altkirchlich vorgesehenen Chorälen ein Vorspiel zum Introitus, zum Offertorium, zur Elevatio, zur Communio und zum Ausklang der Messe geschrieben.
Das Vorspiel zum besagten Sonntag Laetare beginnt mit einem Aufstieg der Dreiklänge Es-Dur, h-Moll, g-Moll im Bass, die untereinander zwar terzverwandt, aber in jeweils direkter Nachbarschaft überhaupt nicht tonartenverwandt sind. Tournemire wird diese Polytonalität an anderen Stellen aus dem Nacheinander auch noch in die Gleichzeitigkeit überführen. Auf diesen mysteriösen Aufgang antwortet der Diskant mit einem leisen, geheimnisvollen Silberschimmern, aus dem – passend zum Sonntag, der seinem Namen nach zur Freude ermuntert – eine versteckte, geradezu kecke Heiterkeit spricht.
Tournemire war von seinem Orgellehrer Charles-Marie Widor im gleichzeitigen Spiel einer Hand auf zwei Manualen trainiert worden. Er verlangt auch hier, dass die rechte Hand vom oberen Manual herunter gleichzeitig ins untere Manual der linken Hand eingreift. Dabei entsteht kein virtuoses Spektakel, sondern eine völlig entrückte, zarte, in ihren Konturen schwer fassbare Musik verschmitzter Fröhlichkeit. In Psalm 119, Vers 162 heißt es: „Ich freue mich über dein Wort wie einer, der große Beute macht“. Und der Prophet Jesaja schreibt im neunten Kapitel in Bezug auf Gott: „Man freut sich deiner Nähe, wie man sich freut bei der Ernte, wie man jubelt, wenn Beute verteilt wird“. Es ist eine kindliche Freude über die Nähe Gottes in der Passionszeit oder schon eine diebischeVorfreude auf Ostern, der Tournemire hier klangliche Gestalt verleiht.
Auch das Offertorium zum Karsamstag, eigentlich dem Tag der größten Gottesferne, weil Christus hier „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ ist, streckt sich bei Tournemire ganz in die Zukunft – hin auf das Wunder der Auferstehung am Ende der Osternacht: Über den Haltetönen eines Sixte-Ajoutée-Akkordes mit hinzugefügter None läuten im Diskant die Glocken in fallenden Quarten, jeweils im Terzabstand verschoben. Die Orgel nimmt die Osterglocken vorweg, deren Geläut die Zeit der vollkommenen Stille seit dem Gründonnerstag beenden wird.
Tjeerd van der Ploeg folgt den detaillierten Registrierungsvorschriften Tournemires so genau wie möglich. Auch wenn Tournemire andernorts das Heilige als klangliche Gewalt erscheinen lassen kann, dominieren in der vorösterlichen und österlichen Zeit die verschmelzungsfähigen Flöten- und Streicherregister, manchmal ganz karg solistisch. Es entstehen leise, wundersame Klänge dabei in gedeckten Farben voll innerer Leuchtkraft. In den Stücken zum letzten Sonntag vor der Passionszeit – Quinquagesimae oder auch Estomihi genannt – lässt die Orgel die Seele zunächst eintreten in den Kirchenraum, lädt dann ein zur Beruhigung, Versenkung und Reflexion in einer Tonalität jenseits von Dur und Moll, aber voller flimmernder diatonischer Dissonanzen, bis der Klang sich am Ende öffnet und weitet: Gestärkt und voller Selbstbewusstsein geht es wieder hinaus in die Welt. Liturgie wird hier gestaltet als dramaturgischer Prozess der Erbauung.
Die Aufnahmen entstanden auf der 1922 geweihten Orgel der Kathedrale Saint Pierre in Douai. Charles Mutin, der Nachfolger des berühmten Aristide Cavaillé-Coll, hatte sie vor dem Ersten Weltkrieg für den Konzertsaal der Philharmonie in Sankt Petersburg gebaut, wo nach dem bolschewistischen Oktoberputsch von 1917 kein Interesse mehr an Orgeln bestand. Da die Deutschen im Ersten Weltkrieg die Orgel in Douai zerstört hatten, kam das romantisch-symphonische Prachtinstrument in diese Kirche. Insgesamt 67 Register verteilen sich auf vier Manuale und das Pedal.
Bei seinem Tod 1939 hinterließ Tournemire eine weitere Oper, die seitdem unaufgeführt blieb: „Le pauvre d’Assise“ über den Heiligen Franziskus. Sie wird am 8. Mai am Theater Ulm ihre Uraufführung erleben. Das umfangreiche Rahmenprogramm dazu mit Vorträgen, Filmen und Konzerten beginnt schon am 27. April.
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