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#Darf die EU Migranten zurückweisen?

Darf die EU Migranten zurückweisen?

Der Europäische Rat wird Versuche von Drittländern, Migranten für politische Zwecke zu instrumentalisieren, keinesfalls hinnehmen.“ So haben es die Staats- und Regierungschefs nach ihrem jüngsten Treffen in Brüssel verkündet. Sie ersuchten die EU-Kommission, „alle erforderlichen Änderungen am Rechtsrahmen der EU sowie konkrete Maßnahmen mit einer angemessenen finanziellen Unterstützung vorzuschlagen, um eine sofortige und angebrachte Reaktion im Einklang mit EU-Recht und internationalen Verpflichtungen der EU, einschließlich der Grundrechte, sicherzustellen“.

Thomas Gutschker

Politischer Korrespondent für die Europäische Union, die Nato und die Benelux-Länder mit Sitz in Brüssel.

Fünf Stunden Debatte waren dem vorausgegangen – und das war erst der Anfang. Denn der Auftrag ist brisant. Es geht nicht bloß darum, ob Zäune oder Mauern an der Grenze zu Belarus aus der Gemeinschaftskasse bezahlt werden sollen. Es geht auch und vor allem darum, ob die EU Zurückweisungen von Migranten, sogenannte Pushbacks, zulässt, wenn ihnen „Push-ins“ vorausgehen.

Die gemeinsame Finanzierung von Grenzsperren dürfte sich fürs Erste sogar erledigt haben; es gibt dafür keine ausreichende politische Mehrheit. Zwar haben sich zwölf Mitgliedstaaten dafür stark gemacht, neun östliche plus Griechenland, Österreich und Dänemark. Doch stehen die anderen Staaten hinter der Position der EU-Kommission, die Ursula von der Leyen nach dem Rat so zusammenfasste: „Es gibt einen langwährenden Comment in der Kommission und mit dem Europäischen Parlament, dass es keine Finanzierung für Stacheldraht und Mauern geben wird.“ Diese Position geht auf die Auseinandersetzung mit Ungarn in der Migrationskrise 2015 zurück. Möglich bleibt logistische Unterstützung: Überwachungskameras, Drohnen und Frontex-Beamte.

Brüssel drückte beide Augen zu

Von der Leyen zeigte sich jedoch für die andere Forderung offen, welche die zwölf Staaten in einem Brief Anfang Oktober erhoben haben, nämlich „den rechtlichen Rahmen an die neuen Realitäten anzupassen“, um sich gegen „hybride Angriffe“ zu wehren. Sie kündigte an, dass die Kommission sich damit im Rahmen der bevorstehenden Revision des Schengener Grenzkodex befassen werde. Noch im November soll dazu ein Vorstoß erfolgen.

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Für das Dossier ist der Vizepräsident Margaritis Schinas verantwortlich, ein Christdemokrat aus Griechenland, der sich immer wieder schützend vor die Regierung in Athen gestellt hat. Als die Türkei Ende Februar 2020 den ersten organisierten Angriff auf die EU-Außengrenze startete und Tausende Migranten an den Evros schleuste, organisierte Schinas die harte Linie der Kommission: Der Ansturm sollte abgewehrt werden, koste es, was es wolle. Athen setzte dafür zeitweilig das EU-Asylrecht außer Kraft, und Brüssel drückte beide Augen zu.

Seinerzeit dauerte es nur eine Woche, bis der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan einlenkte und die Migranten wieder zurückholte. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko gibt nicht so schnell auf. Seit dem Sommer hat er Tausende Menschen in die EU geschleust, als Vergeltung für deren Sanktionen und für die Unterstützung der Opposition. Litauen und Polen haben darauf reagiert: mit zusätzlichen Truppen an der Grenze, mit improvisierten Sperren und gesetzlichen Änderungen. Die wiederum erlauben es, Migranten an der grünen Grenze abzuweisen, selbst wenn sie dort Asyl beantragen. Derlei Anträge dürfen nur noch an regulären Grenzübergängen gestellt werden – welche die Migranten aber nicht erreichen können, weil die belarussischen Beamten nur Personen durchlassen, die ein gültiges Visum für ein EU-Land vorweisen können. Vilnius und Warschau verlangen nun nicht weniger als die rechtliche Anerkennung dieser Praxis durch die Europäische Union.

Beschuldigung der „hybriden Kriegsführung“

Eigentlich sieht das EU-Asylrecht vor, dass Asylanträge überall an der Grenze gestellt werden können und individuell geprüft werden müssen, inklusive Rechtsschutz. Allerdings lässt sich über Artikel 347 des EU-Vertrags eine Ausnahme konstruieren: „im Kriegsfall“ oder „bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung“. Darauf haben sich auch die Griechen schon berufen. Es ist der tiefere Grund, warum die nun betroffenen Regierungen von Anfang an Minsk der „hybriden Kriegsführung“ beschuldigt haben. Sowohl Kommissionspräsidentin von der Leyen als auch zuletzt der Europäische Rat haben sich diese Wendung zu eigen gemacht.

Ob sie juristisch trägt, daran gibt es manche Zweifel. Die Invasion auf der Krim 2014 war gewiss ein Akt hybrider Kriegsführung. Die Russen eroberten die Halbinsel, ohne einen Schuss abgeben zu müssen, mit einer Mischung aus konventionellen militärischen Mitteln wie der Seeblockade von Sewastopol und unkonventionellen: Spezialtruppen ohne Hoheitsabzeichen, begleitet von Propaganda und Desinformation. Lukaschenko geht es zwar auch um Destabilisierung, aber er verbindet damit keine territorialen Ansprüche. Außerdem bleiben die menschenrechtlichen Verpflichtungen in Kraft, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergeben. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat das Asylrecht und den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung in den vergangenen dreißig Jahren weit ausgelegt.

Allerdings haben die Richter im Fall der spanischen Exklave Melilla im Februar vorigen Jahres ein überraschendes Urteil getroffen: Sie erklärten die Pauschalausweisung von Migranten für rechtmäßig, die „gewaltsam und in großer Zahl“ über den hohen Grenzzaun in das Gebiet eingedrungen waren. Asylanträge hätten am regulären Grenzübergang gestellt werden müssen, so die Argumentation – obwohl das für die Betroffenen praktisch unmöglich war, wie für die Migranten in Belarus. An dieses Urteil knüpfen sich allerlei Erwartungen, bei Frontex und bei den östlichen Staaten, aber auch Befürchtungen, besonders im Europäischen Parlament, das einer Revision des Grenzkodex zustimmen muss.

Die Debatte darüber, wie weit die EU gehen darf, um ihre Außengrenze zu schützen, hat begonnen. Auch die neue Bundesregierung wird sich dazu positionieren müssen, und zwar schnell.

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