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#Du wachst mit einer Frage auf und dann kommt die nächste

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Du wachst mit einer Frage auf und dann kommt die nächste

Im Grunde könnte die Suche des Daniel Cohn-Bendit nach seinem Judentum im ersten Streitgespräch erledigt sein. Sein älterer Bruder Gabriel erinnert an den gemeinsamen Vater. Dessen Rede sei gewesen: „Ich habe Deutschland als Linker verlassen und bin als Jude zurückgekommen.“ Er kenne die Ansicht, dass man zum Juden gemacht werde, sagt Gabriel, akzeptiere sie aber nicht. Trotzkist sei er einmal gewesen, jetzt sei er keiner mehr. Als Jude sei er geboren, nun sei er eben keiner mehr. Diese Absage sei seine individuelle Freiheit. „In der letzten Zeit wehre ich mich gegen dieses Identitätsgehabe. Es sind die anderen, die einem die Identität formen, und ich will mich nicht einsperren lassen.“ Der jüngere Bruder kontert den freiheitlichen Gedanken: „Aber man wird dir sagen, du bist jüdisch.“ Vor allem die Antisemiten. Gebe ihm das nicht zu denken?

Zwei hochpolitisierte Männer diskutieren auf einer Bank im französischen Sonnenschein, der eine Mitte siebzig, der andere Mitte achtzig. Die filmische Inszenierung erinnert an ein soziologisch-philosophisches Argumentationsidyll unter Zeitzeugen des Jahrhunderts. Eine Spur von Altersmilde prägt die Atmosphäre.

Zuhörer und Erzähler

Daniel Cohn-Bendit ist in dem Film seines Stiefsohns Niko Apel (Grimme-Preis für „Sonbol“), den er als Hauptfigur, Zuhörer und Erzähler gestaltet, generell auf der Suche nach Ausgleich. In „Wir sind alle deutsche Juden“ begegnet er Juden und Palästinensern, sucht Menschen und Einschätzungen, fragt nach, ist irritiert, schmunzelt über Witze, kommt argumentativ in die Bredouille, benennt Gegensätze, fasst zusammen und kommt am Ende zu einer Art vorläufigen Lösung der Gegensätze in den Lebensprinzipien Offenheit, Integration und Familie. Er bestimmt sein Verhältnis zu Israel in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Gesprächspartnern. Er besucht Orte von religiöser und symbolischer Bedeutung wie das Grab der biblischen Rachel in Bethlehem oder den Fußballverein Makkabi in Frankfurt am Main. An sein persönliches, nichtreligiöses Judentum nähert er sich an. Seinen Frieden mit Israel macht er nicht. Sein Fazit, obwohl persönlich gewonnen, beansprucht allgemeinere Gültigkeit.

Zum Bruderzwist im Hause Cohn-Bendit führt die gegensätzliche Position in diesem französischen Film (einem deutsch untertitelten NDR-RBB-Lizenzankauf) nicht, die Exposition dient vor allem der Schärfung der dokumentarischen Perspektive. Wer Jude ist, bestimmen exklusiv weder einzelne Schriftsteller, noch findet sich ein gemeinsamer Nenner in der Debatte in der Zeitung, noch bleibt die Orthodoxie unwidersprochen, die für einen Juden nur hält, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Antisemiten bestimmen es erst recht nicht. Cohn-Bendit beginnt den Film als Familiengeschichte in Fragen mit und an die Mutter. Apel zeichnet Cohn-Bendits Biographie nach, die Ausweisung aus Frankreich im Zuge der Pariser Mai-Unruhen 1968, antisemitische Kommentare, die Solidaritätsdemos (Slogan: „Wir sind alle deutsche Juden“). Und er reist nach Israel, wo ihn sein Freund, Cicerone und Übersetzer Ofer Bronchtein, Berater und Friedensaktivist, empfängt.

Cohn-Bendit schaut überrascht, als ihm die Chefredakteurin einer israelischen jüdisch-orthodoxen Modezeitschrift vorwirft, als Ehemann einer Nichtjüdin Zerstörer des Judentums zu sein. Zuvor hat er den Kibbuz besucht, in dem er als Jugendlicher von einer sozialistischen Zukunft träumte. Mit der nach Tel Aviv ausgewanderten Naomi Bubis, Tochter von Ignatz Bubis, spricht er über Freiheit und Schubladen. Mit Edgar und Audrey, zwei wegen des wachsenden Antisemitismus aus Frankreich nach Israel gezogenen Juden, geht es um Diskriminierung. Von der erfährt Cohn-Bendit freilich auch an der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv, die ausschließlich nichtjüdische Kinder unterrichtet. Eine weinende schwarze Schülerin spricht über alltäglichen Rassismus in Israel, und auch Cohn-Bendits Augen werden feucht. Mit einer illegalen Siedlerin, einem palästinensischen Architekten, Müttern im „Parents Circle Families Forum“, mit der Sängerin Noa, die das Attentat auf Jitzhak Rabin erlebte, und anderen spricht er über den damaligen Friedensprozess und die Zwei-Staaten-Lösung. Er beleuchtet das Wort „Jude“ etymologisch. Als eine Gesprächspartnerin erläutert, Jüdischsein sei „ein tiefer, philosophischer Zustand des Seins“ und Christ sei man eben bloß per Bekenntnis und ohne eingebauten Zweifel, lässt Cohn-Bendit die absurde Aussage unkommentiert stehen.

Zuschreibungen persönlich nehmen und kraft der Person infrage stellen, das ist das Verfahren dieses intellektuellen, eher anti-identitätspolitischen Road­movies. Begegnung reiht sich an Begegnung, Definition an Präzisierung, Antwort an Antwort, Einordnung an Reflexion. Nimmt man die Begriffsbestimmung ernst, die die liberale Rabbinerin Nava Hefetz Cohn-Bendit mit auf den Weg gibt, ist der Dokumentarfilm selbst ein Exempel praktizierten Judentums. Denn ein Jude, so sagt sie, sei einer, der morgens mit einer Frage aufwache und abends mit einer anderen Frage schlafen gehe.

Wir sind alle deutsche Juden läuft am Montag um 23.35 Uhr im Ersten.

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