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#Ein gänzlich souveränes Individuum gibt es gar nicht

Man kann kurz den Atem anhalten und sich fragen, ob das jetzt der richtige Augenblick ist, ein Buch mit dem Titel „Nicht wie ein Liberaler denken“ zu veröffentlichen – zu einer Zeit eben, da die liberale Demokratie wie lange nicht mehr durch autoritäre und obskurantistische Kräfte unter Druck steht.

Doch der amerikanische Philosoph Raymond Geuss, der Autor des Buchs, würde sich auf solche Skrupel nicht einlassen. Die geläufige Dichotomie „Liberalismus oder Autoritarismus“ hält er für irrig. Er stellt das liberale Denken, das er seit Jahrzehnten von links her kritisiert, wie die Luft dar, in der er und seinesgleichen atmen, eine akademische Klasse, die man hierzulande nicht zögern würde, „linksliberal“ zu nennen – und es ist womöglich gerade auch diese Fraglosigkeit, die die mit dem liberalen Denken assoziierte Demokratie für Angriffe von Leuten anfällig machen kann, denen „das Ganze“ nicht mehr passt.

Diese Rechtfertigung des Zweifelns bringt Geuss selber nicht vor. Sein Ansatz ist kein politisch-strategischer, sondern ein philosophischer. Es gehöre sich für Philosophen nicht, sagt er in immer neuen Wendungen, sich in einer komfortablen Nische einzurichten und keinen Versuch einer Distanzierung von den sie umgebenden Anschauungen mehr zu unternehmen.

Schlimm sei nicht so sehr, dass sich zum Beispiel die Oxforder Philosophen alle Mühe gäben, „die gängige Moral der britischen Mittelschicht zu rechtfertigen – was sonst sollte man von ihnen erwarten?“ Schlimm sei, dass sie die Implikationen ihrer Argumente nie so weit ausbuchstabierten, dass diese die Grundsätze ihrer Lebensführung irgendwie in Zweifel ziehen könnten. „Das war es, was so unphilosophisch war.“

Raymond Geuss: „Nicht wie ein Liberaler denken“. Aus dem Englischen von Karin Wördemann. Suhrkamp, 268 Seiten, 28 Euro.


Raymond Geuss: „Nicht wie ein Liberaler denken“. Aus dem Englischen von Karin Wördemann. Suhrkamp, 268 Seiten, 28 Euro.
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Bild: Suhrkamp

Die letzte hingeworfene Bemerkung zielt ins Zentrum von Geuss’ Sicht darauf, was die Aufgabe seiner Disziplin ist: Er versteht sie nicht als Ansammlung isolierter, herausgelöster Thesen und deren Widerlegungen, sondern als ein immer in soziale und biographische Kontexte eingebundenes Denken, das sich mit keinem Status quo zufriedengibt. Das Denken von dem Leben zu trennen, das einer führt, sei daher von vornherein eine Illusion – oder ein Betrug.

Aus dieser Perspektive ergibt sich der erstaunliche, hochgradig originelle Charakter dieses Buchs, dessen Titel auch lauten könnte: Nicht wie ein Neu­trum denken. Denn wenn man nach dem Punkt außerhalb fragt, von dem her man die Selbstverständlichkeiten ringsum überhaupt kritisch betrachten kann, kommt man laut Geuss mit der reinen Abstraktion nicht weit genug: Vollständige Abstraktion sei unmöglich, und einen „Blick von Nirgendwo“ gebe es nicht. Geuss probiert daher den Weg über das Leben, den ihm sein Verständnis von Philosophie vorzeichnet, genauer: über sein eigenes Leben. Er versucht zu rekonstruieren, wie es dazu kommen konnte, dass er trotz seiner Eingebundenheit in die akademische Welt der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, wo er heute als emeritierter Professor in Cambridge lebt, immun blieb gegen den liberalen Mainstream. Die intellektuelle Autobiographie wird so zum Exempel für das, was laut Geuss am ehesten als Ziel der Philosophie gelten kann: Statt wie üblich zeigen zu wollen, „dass es notwendig ist, in jener Weise zu denken“, beschränkt er sich darauf „zu zeigen, dass es möglich (realistisch) ist, in dieser Weise zu denken“.

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