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#Wen man zum Fressen gern hat

„Wen man zum Fressen gern hat“

Dieser Roman setzt aufs Äußerste. Wobei die Extreme sich in Senthuran Varatharajahs „Rot (Hunger)“ ineinander verschlingen, als wären sie ihrerseits von unstillbarem Hunger geplagt. Oder sind sie statt im Todes- doch im Liebeskampf verschlungen? Am provokantesten an diesem Roman ist sicherlich, von der Anthro­pophagie zu erzählen: Eins werden durch Einverleibung des anderen – das gehört gleichermaßen zu den Sehnsuchtsfiguren der Liebe wie zu den grausamsten Angstphantasien. Ihre Faszination strahlen sie seit den antiken Erzählungen vom Verspeisen der eigenen Kinder aus (von Kronos bis Thyestes). Sie schlug sich aber zum Beispiel auch in den Vorstellungswelten brasilianischer Kolonialisten nieder.

Varatharajahs Roman betont mit seinem Untertitel die Liebesseite: „Dies ist eine Liebesgeschichte“. Warum extra betont werden muss, dass es sich darum handelt? Weil der theoretisch versierte Religionswissenschaftler Senthuran Va­ra­tharajah nichts davon hält, die Anthropophagie nur als Metapher zu verstehen. Hier wird tatsächlich mit Haut und Haar verzehrt: „A legt das Messer neben sein Gesicht. / A wartet. / A betet / A setzt noch einmal die Klinge oben / an Bs Hals an über seinem / Kehlkopf wie – eine Geste.“ Und dann der Schnitt. Zu nah dran? Zu viel Information? Zu große Datendichte? Zu hohe Auflösung? Das ist das zweite Extrem dieses Romans. Er wagt sich vor in das Feld erzählerischer Drastik. Für den Drastiker gilt angesichts der Grausamkeit: „Sieh hin / Sieh genauer hin.“ Um echoartig zu wiederholen: „Sieh hin / Sieh genau hin.“ Noch dorthin schauen, wo andere Erzählungen längst ab­gebrochen haben, den Vorhang des Schweigens herunterreißen, hinter dem sich das Explizite verbirgt.

Wer leidet, sucht sein Leiden mitzuteilen

Doch es geht noch extremer: Wie bei der Beschwörungsformel des genauen Hinsehens, so handelt es sich auch bei zahlreichen weiteren eingespielten Sätzen um (bearbeitete) Zitate aus dem originalen Schriftverkehr zwischen Armin Meiwes und Bernd Jürgen Brandes. Ersteren ernannte die Boulevard-Presse ehedem zum „Kannibalen von Rotenburg“. Der Dokumentarismus lädt die Lektüre des Romans mit zusätzlicher Intensität auf.

So blutig, so bestialisch, so rotten die Ereignisse auch gewirkt haben mögen; Varatharajah erzählt diese Geschichte des Verschlingens mit einem tiefen Verständnis für das, was Simone Weil einmal „menschliche Mechanik“ genannt hat: Wer leidet, sucht sein Leiden mitzuteilen. Und hier kommen zwei an sich und der Welt Leidende zusammen, die plötzlich die Chance sehen, sich gemeinsam in ihrem Leid (mit)zuteilen und davon zu befreien. In Gang setzt sich mit dem Aufeinandertreffen – so unentrinnbar wie die Schwerkraft – eine Mechanik, dem Leiden zu entkommen, sich in ihm aufzuheben. Eine außerordentliche, religiösem Denken vertraute Vorstellung, die zugleich ein Gegengewicht einschließt: Die Art, wie sich hier zwei Extreme verschränken, weist die Kühle eines mechanischen Ablaufs auf.

In dieser Maschinerie lässt Varatha­rajah erzählerisch die Zuweisungen von Täter- und Opferrollen verschwimmen. Ist derjenige, der mit der Schuld des Verzehrens weiterlebt, der alleinige Täter? Oder ist er das Opfer desjenigen, der sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllte, von einem anderen einverleibt zu werden? Mit B.s Worten „Fahr mich zurück. Ich will, dass du mich zurückführst“ endet der erste Teil des Romans. Mit der Umkehr vom Bahnhof, das Ticket nach Berlin ist schon gekauft, und den Worten „du kanns/t es machen“ und „ich bitte dich darum“ setzt der zweite Teil ein.

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