Holocaust-Überlebende Chaja Polak im Interview

Als Kind wurden Sie von Ihrer Mutter getrennt. Wie haben Sie das erlebt?
Ich wurde zweimal von meiner Mutter getrennt. Das erste Mal war ich acht Monate alt. Nach einem Aufruf der Nationalsozialisten wurde ich in ein Versteck gebracht. Meine Mutter kam dort ebenfalls hin und sorgte für mich. Ich habe sie zur Sicherheit Tante genannt. Aber sie war meine Mutter, das muss ich gespürt haben. Im April 1944 wurden meine Eltern verraten. Die Deutschen nahmen sie mit, mich ließen sie zurück, weil sie dachten, meine Eltern hätten einen Jungen. Als ihnen der Irrtum auffiel, kamen sie zurück, noch am selben Abend. Doch in der Zwischenzeit hatte man mich woanders hingebracht. Diese Trennung von meiner Mutter war für mich sehr traumatisch. Sie war das Liebste, was ich hatte.
Erinnern Sie sich an den folgenden Tag?
Ich erinnere mich nicht an die Verhaftung, die muss ich verdrängt haben. Dafür erinnere ich mich an den Tag danach. Ich liege im Bett, am Kopfende sitzen zwei fremde Frauen. Es ist hell, aber ich bin trotzdem im Bett. Ich dachte, dass ich krank bin.
Wie war der Tag, an dem Ihre Mutter endlich zurückkam?
Ich saß in einem Kinderstuhl und aß Brei. Zwei Männer der Binnenlandse Strijdkrachten, einer niederländischen Widerstandsgruppe, kamen und sagten zu mir: „Wir bringen dich zu deiner Mutter.“ Diese Geschichte hatte ich oft gehört, wenn ich von einem Versteck ins nächste gebracht wurde. Meine Mutter war damals in Enschede, dort reisten wir hin. Als ich meine Mutter sah, dachte ich, dass ich noch nie so eine liebe Frau gesehen habe. Sie schlief auf einer Matratze auf dem Boden, ich daneben in einer Schublade. Ich war noch sehr klein, erst dreieinhalb Jahre alt.
Sie hatten danach immer Angst, dass sie wieder weggeht.
Ja. Immer. Ich hing an ihrem Rock. Ich wollte nicht draußen spielen. Sie hat mir ein rotes Fahrrad gekauft, aber ich wollte einfach nicht raus. Manchmal setzte sie mich regelrecht vor die Tür. Einmal spielte ich zusammen mit anderen Kindern mit Murmeln. Da rief eine Frau aus dem Fenster: „Man hat vergessen, dich zu vergasen.“ Ich bin weinend nach Hause gerannt.

Welche Folgen hatten all diese Erlebnisse für Ihr Leben?
Man heiratet, bekommt Kinder, lebt sein Leben. Aber ein Beispiel: Meine jüngste Enkelin ist zwei Jahre alt. Ich habe vor Kurzem ein paar Tage auf sie aufgepasst. Irgendwann fragt sie: „Wo ist Mama?“ In diesem Moment bin ich beinahe zusammengebrochen. Ich sagte zu ihr: „Noch einmal schlafen, dann ist Mama wieder da.“ Solche Momente meine ich.
Ihre Eltern haben Ihnen mitgegeben, den anderen als Mensch zu sehen. Was bedeutet das?
Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel. Als ich sechs Jahre alt war, klingelte es an unserer Haustür. Meine Mutter und mein Stiefvater sagten zu mir: „Chaja, machst du bitte die Tür auf?“ Vor der Tür stand ein Mann, den ich nicht kannte. Er fragte auf Deutsch: „Ist dein Vater da?“ Ich geriet komplett in Panik. Deutsch bedeutete für mich Gefahr. Später erfuhr ich, dass das ein Freund meines Stiefvaters war, der von 1933 bis 1945 inhaftiert war, weil er Antifaschist war. Da habe ich gelernt: Wir dürfen nicht verallgemeinern. Wir müssen uns darauf besinnen, was uns verbindet, und nicht darauf, was uns trennt.
Erschrecken Sie heute noch, wenn Sie Deutsch hören?
Nein, schon lange nicht mehr. Aber es hängt ein bisschen davon ab, wie es gesprochen wird. Ich erinnere mich, dass ich als Kind in bestimmten Radiosendungen Hitler sprechen hörte. Da bekam ich schreckliche Angst.
Sie schreiben in „Briefe in der Nacht“, dass der manipulative Gebrauch von Sprache der Anfang einer Negativspirale sein kann. Wie blicken Sie auf heutige politische Entwicklungen?
Populismus ist sehr gefährlich. Genauso wie manipulierte Informationen in den sozialen Medien. Wir müssen die Menschen ermutigen, neugierig zu sein. Wer die Geschichte kennt, weiß auch, dass Menschen im Hitler-Regime manipuliert wurden. Und wer das weiß, erkennt, wohin das führen kann.
Anlässlich des Befreiungstages in den Niederlanden haben Sie in Den Haag eine Rede gehalten. Was ging Ihnen zuvor durch den Kopf?
Ich dachte die ganze Zeit: Ich kann nicht bei der Schoa, beim Holocaust, stehen bleiben. Ich muss auch über die Gegenwart sprechen. Gleichzeitig möchte ich nicht, dass das, was heute geschieht, einen Schatten auf das Gedenken an die Opfer wirft. Deshalb habe ich mich entschieden, über beides zu sprechen. Was derzeit im Nahen Osten geschieht, ist so extrem, dass ich nicht daran vorbeigehen kann. Ich möchte die Verbindung aufzeigen. Als jemand, der selbst ein Trauma und den Verlust der Eltern erlebt hat, fühle ich mich verpflichtet, darauf hinzuweisen, was Israel derzeit tut – aber auch auf das, was die Hamas tut. Ich bin gegen alle totalitären Regime.
Ich lehne die Regierung Netanjahu ab, ich lehne die Hamas ab. Ich vermute, dass die Bevölkerungen auf beiden Seiten von ihren Regierungen und Führern mithilfe falscher Informationen und durch Angstmacherei in Geiselhaft genommen werden. Ich wünschte, die Menschen würden das erkennen. Es gibt zum Glück noch Menschen, die differenzierter hinschauen. Und es gibt auch einige jüdische Menschen und Organisationen, die ihre Meinung sagen. Nicht alle Juden sind für dieses Israel. Auch in Israel selbst sind nicht alle Juden für dieses Israel.

Noch einmal zurück zu Ihren persönlichen Erfahrungen. Spüren Sie heute noch die Folgen Ihres Traumas?
Ich habe vor einiger Zeit an einer Dokumentation mitgewirkt. Darin spiele ich eine Mutter, die ihr Kind zu einem Versteck bringt. Später am Tag bin ich durch Amsterdam gelaufen. Doch ich erinnere mich an nichts mehr, das war wie ein Blackout. Ich stand völlig neben mir. Erst vor meiner Haustür kam ich wieder zu mir. Das lag an dem Verlustgefühl, das in mir hochkam. All das ist eine Folge von Krieg und Gewalt. Daher ist es mir so wichtig zu sagen, dass Probleme nicht mit Gewalt gelöst werden. Sieh den anderen nicht als Feind, sondern als Mensch. Ich weiß, was passiert, wenn man das nicht tut.
Auch die Eltern Ihres verstorbenen Mannes Nol van Dijk wurden durch die Nationalsozialisten ermordet. War das etwas, das Sie miteinander verband?
Ja, wir mussten uns nichts erklären. Es fühlte sich so an, als hätten wir bei dem anderen ein Zuhause gefunden. Er war meine große Liebe. Ich kannte ihn schon sehr lange. Er war ein Freund von Freunden. Dadurch wurden auch wir Freunde. Nach der Scheidung von meinem ersten Mann hatte ich das Gefühl, dass ich ihn schon lange geliebt habe. Aber ich habe es zurückgehalten. Ich war 50, als wir zueinander fanden, er war 61.
Ihr Mann sagte, er habe eine Art Kiste in seinem Körper, in der er die Erinnerungen an seine Familie bewahrte.
So hat er es selbst beschrieben. Er versuchte, den Deckel dieser Kiste geschlossen zu halten. Wenn er krank war, kam alles heraus. Und wenn wir im Urlaub waren und er in einem fremden Bett schlief, kam die Angst zurück. Es erinnerte ihn an den Tag, als er von seinen Eltern getrennt wurde und Fremde ihn mitnahmen. Von einem auf den anderen Tag war er in einer völlig fremden Umgebung. Dieses Gefühl von Verlassenheit und Einsamkeit überfiel ihn dann. In den darauffolgenden Tagen bekam er den Deckel wieder zu, doch er saß nie ganz fest darauf.

Erinnern Sie sich an einen Urlaub, in dem das passiert ist?
Ja, das war in Berlin. Denn dort, am Wannsee, wurde von den Nazis der Genozid an den Juden beschlossen. Das hat unser Leben bestimmt. Wir sind zur Wannsee-Villa gefahren und haben die Räume betreten, in denen die Nazis ihre Konferenz abhielten. Später war ich mit meinem Mann und meinen zwei Söhnen im Konzentrationslager Dachau, wo mein Vater gestorben ist – infolge des Todesmarsches von Auschwitz nach Dachau. Es war schön, das mit meinem Mann und meinen Söhnen gemeinsam zu erleben. Im Januar war ich mit meinem Enkel in Dachau. Einerseits war es schrecklich. Andererseits war es herzergreifend und tröstlich, den Schmerz gemeinsam mit ihm, Hand in Hand, zu durchleben.
Gab es andere Situationen, in denen Sie spürten, was Ihr Mann im Krieg durchgemacht hat?
Mein Mann war ein fröhlicher, positiver, unglaublich witziger Mensch. Aber ich erinnere mich, wie wir in einer Warteschlange vor dem Kino standen. Die Leute drängelten sich vor. Ich sagte zu ihm: „Das darfst du nicht zulassen.“ Er antwortete: „Das ist das Untertauch-Kind in mir, das sich immer verstecken musste.“ Er machte sich ein wenig unsichtbar. Und er war immer lieb und freundlich. Das ist bei vielen Kindern so, die untertauchen mussten. Sie waren meistens unglaublich brav. Ich bin auch so erzogen worden.
Ja, ich denke schon – aber es hat sich verändert. Früher war ich so unsicher, als Kind, aber auch als junge Erwachsene noch. Das blieb so, bis ich meinen zweiten Mann traf. Dann konnte ich wieder so sein, wie ich eigentlich war. Bei ihm war ich sicher. Wenn man verstanden wird, kann man aufblühen. Heute kann ich auch als Schriftstellerin in der Öffentlichkeit auftreten. Ich bin nicht mehr die Chaja, die sich verbergen muss.
Nach dem Interview steht Polak noch eine Weile in der Tür, schließt die Augen und lässt die Sonne auf ihr Gesicht scheinen. Dann schließt sie die Tür und geht in den Garten. Sie will noch Unkraut jäten.
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