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hr-Sinfonieorchester feiert in Paris die Uraufführung des „Te Deum“ in Notre-Dame

Tage zuvor beschäftigt eine Frage, ja sogar eine Sorge die Musiker. Wie mag das später in Notre-Dame klingen, in einer Kathedrale mit sechs bis sieben Sekunden Nachhallzeit, im Zusammenwirken mit drei Chorgruppen, die dort um das Orchester herum aufgestellt sein sollen? Vor dem hr-Sinfonieorchester liegt eine Woche voller Spannung. An deren Ende soll ein überwältigendes Klangerlebnis in der Pariser Kathedrale stehen.

Ein erstes Mal proben die Musikerinnen und Musiker das gesamte „Te Deum pour Notre-Dame“ im Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Der ist das ganze Gegenteil der Kathedrale, bekannt für seine akustische Genauigkeit. Am meisten beschäftigt die Frage nach den Schwierigkeiten, die durch die Distanzen und den Hall entstehen können, natürlich Chefdirigent Alain Altinoglu.

Als gebürtiger Pariser kennt er die klanglichen Gegebenheiten in Notre-Dame von klein auf. Und seit seiner Jugendzeit kennt er auch den Komponisten Thierry Escaich, der, elf Jahre älter als er, ebenfalls am Pariser Konservatorium studiert hat, und wie er nun schon seit Langem dort lehrt.

Als „Composer in Residence“ des hr-Sinfonieorchesters hat der 60 Jahre alte Escaich das Auftragswerk geschrieben. Sein großes „Te Deum pour Notre-Dame“ für Kinderchor und zwei gemischte Chöre soll mit dem Frankfurter Orchester als Festkonzert uraufgeführt werden. Der Abend, in Zusammenarbeit mit der für die Musik in der Kathedrale zuständigen „Musique Sacrée à Notre-Dame“, soll das Programm zur Wiedereröffnung der nach dem Dachstuhlbrand von 2019 restaurierten Kathedrale abschließen.

Keiner weiß vorher, wie das Zusammenspiel klingen wird

Escaich ist mit der Akustik von Notre-Dame am allerbesten vertraut, denn er ist einer der fünf Titularorganisten dort, bekannt wie sein Kollege Olivier Latry auch als großer Improvisator. Das Frankfurter Publikum hat ihn so während seiner Residenz vor Kurzem in der Alten Oper erlebt, als er die Aufführung seines Cellokonzerts mit einer Improvisation an der Orgel eingeleitet hat.

Zu hören war ein formvollendetes Werk, das auf eine für Escaich charakteristische Weise Stile mischte, von der quasi sakralen Atmosphäre bis zu jazz-rockigen Einflüssen. Eine sogar noch stärkere Komposition dieser Art hat das hr-Sinfonieorchester im März mit Escaichs „Ballade“ für Orchester und Bigband zur Uraufführung gebracht, mit großem Erfolg beim Publikum wie bei den Musikern der hr-Bigband und des hr-Sinfonieorchesters unter Altinoglus Leitung.

Hoch konzentriert: Chefdirigent Alain Altinoglu während der Probe
Hoch konzentriert: Chefdirigent Alain Altinoglu während der ProbeMaximilian von Lachner

Der Chefdirigent und das Orchester sind also vertraut mit dem von Drive und vertrackten Rhythmen gekennzeichneten Stil des in allen Genres bis hin zur Oper erfahrenen Komponisten. Und doch ist Anspannung bei dieser ersten Probe im Sendesaal mit Händen zu greifen. Es geht schließlich wieder um eine Uraufführung.

Und das bedeutet: Es gibt keine Tonaufnahme, die sich die Musiker vorher anhören könnten. Sie alle kennen nur ihre eigene Stimme, die sie erst wenige Tage vor dieser Probe erhalten haben und im Eiltempo allein einstudieren mussten. Die Orchesterpartitur mit allen Stimmen haben sie nicht, sie wissen nicht, wie alles zusammenklingt.

Das erahnen in ihrer Klangvorstellung im Grunde nur Altinoglu und Escaich, der hinter dessen Pult die Noten in der Partitur mit seinem Assistenten Boris Freulon mitverfolgt. Dabei geht es auch um den Abgleich der Einzelstimmen mit der vollständigen Orchesterpartitur, um Korrekturen kleiner Fehler und die aufführungspraktische Einrichtung mit Vortragsanweisungen, die sich durch Hinweise der Spieler ergeben.

Vertraute Partner: Thierry Escaich (l.)  und Chefdirigent Alain Altinoglu besprechen Korrekturen während der Probe.
Vertraute Partner: Thierry Escaich (l.) und Chefdirigent Alain Altinoglu besprechen Korrekturen während der Probe.Maximilian von Lachner

Einige Musiker haben bei der Probe Rückfragen, Escaich oder Freulon eilen im Zweifelsfall herbei. Alle greifen immer wieder zu ihren Bleistiften und machen sich Notizen in ihren Noten. Für die Streicher ist die Sache zusätzlich kompliziert, sie spielen oft vielfach geteilt.

Das heißt, zwei Violinisten, die zusammen an einem Pult und aus einer Notenausgabe spielen, musizieren doch verschiedene Parts und müssen sich einigen, wer die obere und wer die untere Stimme übernimmt. Die Bewegung des Bogens aufwärts oder abwärts, Aufstrich und Abstrich, wie die Streicher sagen, ist auch ein Thema.

All das und vieles mehr wird quasi nebenbei verhandelt, während Altinoglu in rasendem Tempo ständig neue Einsatzstellen vorgibt. Dann sind alle bei Takt XY sofort auf den Schlag präsent. Die Professionalität ist enorm, die Konzentration spürbar. Auf Altinoglus Hemd zeichnen sich nach kurzer Zeit am Rücken leichte Schweißabdrücke ab. Er arbeitet fieberhaft vor allem an der Rhythmik und am Zusammenspiel.

Der Chor kommt erst später dazu

Was bei dieser ersten Probe noch völlig fehlt, ist der Chor. Er kommt zu dem dichten und komplexen Orchesterpart erst später hinzu. Altinoglu vermittelt an einer Stelle zumindest schon mal einen kleinen Eindruck: „I’m gonna scream the choir now“, ruft er, gibt den Einsatz und versucht, mit seiner Stimme das spielende Orchester zu übertönen.

Die Violinistin Ulrike Mäding zeigt sich in einer kurzen Pause begeistert von Escaichs Komposition. Wie das Zusammenspiel in Notre-Dame funktionieren wird, „ob wir uns da gegenseitig hören“, ob die umstehenden Chöre womöglich alles überdecken, das weiß sie nicht. „Zumindest haben wir jetzt einmal gehört, wie es in normaler Akustik klingen kann“, scherzt sie.

Escaich hat unterdessen bei der Komposition zunächst einmal eine andere Sorge gehabt: Die Vorstellung, ein „Te Deum“ zu schreiben, habe ihm angesichts großer Vertonungen wie der von Charpentier oder Berlioz etwas Angst gemacht. Der lateinische Text zu dieser großen „Zelebration“ sei ihm nicht sehr interessant erschienen. So kam er zu dem Entschluss, eine neue Dramaturgie zu entwickeln, die alles in nähere Verbindung zur Gegenwart bringen soll.

Als er im September mit der Arbeit begann, las er zunächst viel und stellte dann Texte von verschiedenen Autoren zusammen, die alle etwas mit Notre- Dame zu tun haben, von Victor Hugo zum Beispiel, der durch seinen Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ den Nimbus der Kathedrale mitgeprägt hat. Außerdem beauftragt Escaich die Autorin Nathalie Nabert, eine Paraphrase über den feierlichen lateinischen Lobgesang zu schreiben.

So gibt es nun mehrere Textebenen in seinem „Te Deum“, lateinische Originalverse, die Paraphrase, Bibeltexte und Exzerpte von verschiedenen Autoren. Bei einer Aufführungsdauer von 45 Minuten gliedert es sich, wie Escaich sagt, in vier „musikalische Gemälde“. Zuerst „Nuit de Feu“ („Nacht des Feuers“), das sich auf die Brandnacht von Notre-Dame 2019 bezieht.

Darin erklingt zunächst die alte gregorianische „Te Deum“-Melodie „wie eine Erinnerung aus der Vergangenheit“. Von dort aus nehme eine Entwicklung ihren Gang. Im zweiten Abschnitt geht es um die biblische Geschichte der „Drei Jünglinge im Feuerofen“, die Escaich im Titel „Anges de lumières“ („Engel des Lichts“) nennt, und um „eine Entwicklung zum Licht hin“.

Komponist Thierry Escaich (Mitte) bespricht seine Vorstellung mit zwei Bläsern.
Komponist Thierry Escaich (Mitte) bespricht seine Vorstellung mit zwei Bläsern.Maximilian von Lachner

Vor allem im dritten Abschnitt hat Escaich, wie er sagt, beim Komponieren die Kathedrale Notre-Dame im Kopf gehabt, die zu dieser Zeit, im Dezember, gerade wieder eröffnet wurde. Ihr Raumklang sei eng mit der Komposition verbunden. Die teils links und rechts vom Orchester aufgestellten Chöre würden „Klangwellen“ durch das Kirchenschiff schicken. Im vierten Teil geht es, so Escaich, um den „Weg zur Offenheit“. „Die Flamme ist auch Licht“, gibt er zu bedenken. „Das Ende ist sehr laut, aber vorher gibt es sehr intime Abschnitte mit Kinderchor und Streichern.“

Auch populäre Musik und Tänzerisches finden Eingang. „Das ist meine Sicht auf Kirchenmusik“, sagt der Komponist und Organist, der im Festkonzert auch wieder improvisieren wird, diesmal natürlich an der großen Orgel von Notre-Dame, die beim Brand kaum beschädigt, aber danach doch grundlegend gereinigt und überholt wurde: „Was ich spiele, entscheide ich im letzten Moment“, sagt Escaich. Die Aufgabe sei aber schwierig. Denn seine Improvisationen müssten sich zwischen den Sätzen in die Architektur des großen Werks einfügen: „Ich muss in einen Dialog mit mir selbst treten.“

„Das ist schon ein monströses Projekt“

Der erste Test: die Generalprobe. Am Tag zuvor hat das Orchester in der Grande Salle des Orchestre national d’Île-de-France geprobt. Auf der Fahrt im Orchesterbus vom Pariser Hotel nach Notre-Dame berichtet Hornist Maciej Baranowski, dass die erste Probe mit dem Chor aus seiner polnischen Heimat, dem Narodowe Forum Muzyki Choir de Wroclaw, und den Kinder- und Erwachsenenchören der Maîtrise Notre-Dame de Paris gut verlaufen sei.

„Das ist schon ein monströses Projekt“, sagt er. Der logistische Aufwand sei für alle Beteiligten enorm. Es sei eindrucksvoll, wie tief Escaich in die Proben einsteige. „Er komponiert schöne Musik“, konstatiert Baranowski. „Mehr als anspruchsvoll ist sie aber auch“, fügt Kontrabassist und Orchestervorstand Ulrich Franck hinzu. Es gebe nahezu unspielbare Passagen mit schnellen Triolen, bei denen andauernd die Vorzeichen wechselten.

Nachdem der Bus im Pariser Stau nur langsam vorangekommen ist, taucht endlich auf der Île de la Cité die Kathedrale Notre-Dame auf. Strahlend im Sonnenschein steht sie da, die Musiker haben es eilig, hineinzukommen, aber für ein paar Handyfotos muss kurz Zeit sein. Und dann sitzen sie auch schon bereit und stimmen ihre Instrumente. Notre-Dame ist durch die Renovierung viel heller geworden, die großen Rosettenfenster leuchten.

Der erste Raumeindruck ist so gigantisch wie der erste Klangeindruck. Als die in breitem Halbrund unter der Vierung hinter dem Orchester aufgestellten Chöre einsetzen, wird sofort klar: Das ist vor allem ein Chorwerk. Die gut ausgebildeten und in der Kürze der Zeit von ihren Chorleitern exzellent vorbereiteten Sängerinnen und Sänger, auch die disziplinierten Kinder decken mit ihren kräftigen Stimmen das Orchester zu. Doch das soll und muss so sein.

Die Raumklangwirkung ist unglaublich stark. Escaich hat sie mit zusätzlichen Effekten verstärkt. Auf der im Chorraum umlaufenden Balustrade spielt ein Schlagzeuger auf drei echten Kirchenglocken das „Te Deum“-Motiv an. Baranowski gehört unterdessen zu einer Gruppe von Blechbläsern, die an einer Stelle nach hinten in Richtung Altar eilen, um von dort Fernwirkung zu erzielen. Altinoglu legt, wenn er laute Ansagen macht, die Hände wie einen Schalltrichter an den Mund. Er probt zunächst noch einmal ausgewählte Stellen, ehe es einen Gesamtdurchlauf gibt.

Die wenigen Zuhörer, die in diesen Genuss kommen, haben allesamt Funktionen und die seltene Möglichkeit, leise umherzugehen, auch auf den Balustraden, in den Seitenschiffen zu lauschen. Der Eindruck ist überall überwältigend. Die Kathedrale scheint mitzusingen, selbst zum Instrument zu werden. Es klingt überall anders, hinter Säulen gedämpfter, aber überall gut. Der typisch französische Klangfarbenzauber, den Escaich seiner Komposition eingeschrieben hat, kommt heraus. Schwierig ist es nur mit der Textverständlichkeit.

Violinistin Stefanie Pfaffenzeller scheint auf der Rückfahrt im Orchesterbus noch im Flow zu sein. Sie habe genau gesehen, sagt sie, wie Escaich schon bei den ersten Klängen gestrahlt habe: „Sein Plan geht auf.“ Bei allen Schwierigkeiten unterstützten die Atmosphäre, der besondere Ort und der Anlass. „Das wird eines der wichtigsten Konzerte in der mehr als hundertjährigen Geschichte des Orchesters“, ist nicht nur sie überzeugt. „Und es ist ein durch und durch europäisches Projekt“, fügt Pfaffenzeller mit Blick auf die französisch-polnisch-deutsche Kooperation hinzu, „und das ist nötiger denn je.“

Und dann kommt der Höhepunkt: das Festkonzert. Es ist seit Monaten ausverkauft, vor dem Eingang bilden sich Schlangen. In der Kathedrale liegt von einem vorausgegangenen Gottesdienst noch Weihrauch- und Kerzenduft. Dann erschallen im Rücken der riesigen Besetzung die „Te Deum“-Rufe, archaisch nach Art einer Mönchsschola, aus räumlicher wie aus zeitlicher Entfernung, bald auch das Dreiton-Kernmotiv mit den Glockenschlägen von oben rechts. Der Furor mit den unspielbar schnellen Bassfiguren und die fast panischen Rufe der Chöre führen in die Brandnacht.

Die auch von den Musikern mit Spannung erwarteten Improvisationen Escaichs weisen zwischen den Sätzen zurück und voraus. An der von Aristide Cavaillé-Coll im 19. Jahrhundert erbauten Orgel greift er viele Orchesterfarben und Motive auf. Es schillert, klingt gleißend hell, dumpf, dröhnend oder perkussiv und erfüllt den ganzen Raum. Escaich ist ein großer Klangarchitekt, seine Musik ist für diese Kirche gemacht und erzählt in großem Spannungsbogen eine sehr positive Geschichte, die vom Inferno, vom Dunkel ins Licht führt, bis zum grandiosen Abschluss.

Altinoglu ist wieder durchgeschwitzt: „Very hard work“, gesteht er. Der Kathedralraum selbst aber habe dem Stück etwas gebracht. Erst am Ort selbst hat er in Absprache mit Escaich „das Tempo von Notre-Dame“ gefunden. „Der Atem, die Seele von Notre-Dame“ sei eingeflossen. Für was dieses Bauwerk steht, was es für Frankreich und für Europa bedeutet, hat sich bei der Anteilnahme in aller Welt beim Brand gezeigt – und nun bei dieser denkwürdigen Uraufführung.

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