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#Im Elysium der Erinnerung

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„Im Elysium der Erinnerung“

Die Syntax der Ungeduld scheut Zeitworte: „Weihnachten, viel Schnee, klare Frosttage, die Droschkenkutscher fahren rasant und übermütig, ab zwei Uhr spielt auf der Fahrbahn im Stadtgarten die Militärmusik.“ Das Motiv der Ungeduld liefert Iwan Bunin in seiner Erzählung „Der Meteor“ nur eine Seite später: „Im Wäldchen ist es noch süßer, sich jung zu fühlen, festtäglich, stets irgendeinem Glück ganz nah, und diese winterliche, ätherische Luft zu atmen. Der Lyzeumsschüler wartet ungeduldiger als alle anderen auf das Glück und bleibt immer dicht neben der Gymnasiastin.“

Im Winter erwacht der Frühling: Jugendliche Sexualität zittert durch die Zei­len wie die Lippe eines flehmenden Hengstes. Der Realismus der Ski-Partie durch den Winterwald, ein Motiv fast wie aus den Kurzgeschichten Eduard von Keyserlings, wird zunehmend symbolistisch durchsetzt: Im ersten Moment un­gestörter Zweisamkeit, der das er­sehnte Glück bringen könnte, den ersten Kuss vielleicht, intimere Berührungen, er­schießt der Lyzeumsschüler einfach einen Gimpel. Schon Odo Marquard wusste: „Der Mensch ist das Wesen, das immer etwas stattdessen tut.“ Das Fangen oder Töten von Singvögeln ist nun seit Alters her ein Symbol für eine wenig sublimierte, gar gewalt­same Sexualität.

Doch Bunin, in seiner Prosa der Eile, wartet mit einem viel größeren Knall auf: dem Einschlag eines Meteoriten. Die dicht gedrängte, nur siebzehn Seiten umfassende Erzählung, mehr Skizze oder Miniatur nach dem Vorbild der späten „Gedichte in Prosa“ von Iwan Turgenjew, kulminiert in diesem Ereignis, von dem man beim Lesen nicht genau sagen kann, ob es für sich selbst steht – oder eben für etwas stattdessen. Wir erfahren nur eines: Als die zwei jungen Menschen zurückkommen, „können sie kein Wort mehr sprechen“. Die Wucht der Erfahrung hat sie verstört. Ob man das naturalistisch oder symbolistisch lesen soll, bleibt in der Schwebe. Nur die Intensität ist enorm durch Kürze, Ge­schwindigkeit und Aussparung.

Iwan Bunin: „Nachts auf dem Meer“. Erzählungen 1920–1924. Aus dem Russischen  von Dorothea Trottenberg und Swetlana Geier. Hrsg. von Thomas Grob. Dörlemann-Verlag, Zürich 2022.  334 S., geb., 26,– €.


Iwan Bunin: „Nachts auf dem Meer“. Erzählungen 1920–1924. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg und Swetlana Geier. Hrsg. von Thomas Grob. Dörlemann-Verlag, Zürich 2022. 334 S., geb., 26,– €.
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Bild: Dörlemann-Verlag

Bunin, der 1933 als erster Russe überhaupt den Nobelpreis für Literatur er­hielt, war in seinen literarischen Maßstäben gnadenlos. An Dostojewski verabscheute er „diese anspruchsvollen Schwätzer mit ihren verrückten Ideen“; an Tschechow, den er viel höher achtete, störte ihn die „Empfindelei“ in dessen Theaterstücken. Nur auf Lew Tolstoi – den Romancier, nicht den Pamphletisten – ließ Bunin nichts kommen. Doch die Erzählungen der Jahre 1920 bis 1924, mit denen der Dörlemann-Verlag nun unter dem Titel „Nachts auf dem Meer“ seine Werkausgabe in Neuübersetzungen fortsetzt, halten einen für den Autor neuen Ton der starken emotionalen Beteiligung, der Schwärmerei und der Nostalgie bereit. Die kurze Erzählung „Die Schnitter“ ist ein sommer­liches Idyll, worin das einfache, arbeitsame, von Gesang durchzogene Land­leben im vorrevolutionären Russland überhöht wird zu metaphysischer Zeitlosigkeit wie in dem Gemälde „Mittag – In der Umgebung Moskaus“ von Iwan Schischkin: „In der ewigen Stille, der Einfachheit und der Ursprünglichkeit seiner Felder gingen sie und sangen mit epischer Ungebundenheit und Ergebenheit. Und der Birkenwald nahm ihr Lied auf und stimmte ein, genauso frei und ungezwungen, wie sie sangen.“ Die illusionslose Präzision, mit der Bunin früher das Dorfleben geschildert hatte, ist einem Ton der Verklärung gewichen.

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