#Impfstatus verzerrt unsere Erinnerung an die Pandemie
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Wie haben wir zu Beginn der Covid-19-Pandemie das Risiko eingeschätzt, uns zu infizieren? Und wie viel Vertrauen hatten wir damals in Wissenschaft und Politik? Wenn wir heute an die Zeit vor rund drei Jahren zurückdenken, sind unsere Erinnerungen womöglich von unserer heutigen Einstellung beeinflusst. Eine Studie zeigt, dass Geimpfte ihre damalige Risikobewertung überschätzen, Ungeimpfte sie dagegen unterschätzen. Dieser Effekt war umso stärker, je mehr sich eine Person mit ihrem Impfstatus identifizierte. Die verzerrte Erinnerung trägt dem Forschungsteam zufolge auch zur gesellschaftlichen Polarisierung bei.
Im Mai 2023 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO den globalen Corona-Gesundheitsnotstand aufgehoben. Vielen Länder der Welt widmen sich nun der Evaluation und Aufarbeitung der Pandemiezeit. Welche Maßnahmen haben sich als wirkungsvoll erwiesen, welche hätte es aus heutiger Sicht vielleicht nicht gebraucht? Wie hat sich die Pandemie auf die Gesellschaft ausgewirkt? Und welche Schlussfolgerungen können für mögliche zukünftige Pandemien gezogen werden? Wichtig dabei ist auch die gesellschaftliche Erinnerung und Bewertung der Pandemiezeit, denn diese beeinflusst nicht nur das heutige Vertrauen in Politik und Wissenschaft, sondern auch das zukünftige Verhalten in ähnlichen Situationen.
Vergleich von damals und heute
Doch sind unsere Erinnerungen akkurat? Damit hat sich nun ein Team um Philipp Sprengholz von der Universität Bamberg in einer länderübergreifenden Studie beschäftigt. Bereits 2020, im ersten Jahr der Pandemie, hat das Team tausende Menschen aus Deutschland und Österreich dazu befragt, wie sie ihr persönliches Infektionsrisiko einschätzen, welche Schutzmaßnahmen sie einhalten und in welchem Maße sie der Regierung und der Wissenschaft vertrauen. Die zweite Befragung erfolgte zum Jahreswechsel 2022/2023. „In der zweiten Befragung wurden sie auch gebeten, sich an ihre Wahrnehmungen und Verhaltensweisen im ersten Jahr der Pandemie zu erinnern“, erklärt Sprengholz. „So konnten wir ihre Erinnerungen mit den tatsächlich gegebenen Antworten vergleichen.“
Dabei erhoben die Forschenden auch, ob die Befragten geimpft waren und wie sehr sie sich mit ihrem Impfstatus identifizierten. Dazu sollten die Testpersonen beispielsweise angeben, ob sie „stolz“ darauf sind, geimpft oder ungeimpft zu sein, und ob sie sich zur Gruppe der Geimpften oder Ungeimpften zugehörig fühlen. Zusätzlich zu den Erhebungen aus Deutschland und Österreich bezogen die Forschenden Studien mit insgesamt über 10.000 Befragten aus insgesamt elf Ländern ein, darunter Großbritannien, Schweden, Italien, Japan, Australien, Mexiko und die USA.
Vergangene Einstellungen umgedeutet
Das Ergebnis: „Die Erinnerungen waren sowohl bei Geimpften als auch bei Ungeimpften verzerrt, aber in entgegengesetzte Richtungen“, berichtet das Team. Geimpfte überschätzten ihre damalige Risikobewertung und ihr Vertrauen in die Wissenschaft, Ungeimpfte dagegen unterschätzten diese Faktoren. Dieser Effekt war stärker, je mehr sich die Befragten mit ihrem Impfstatus identifizieren. „Die Ergebnisse zeigen, dass es systematische Unterschiede darin gibt, wie sich Menschen an die Pandemie erinnern, obwohl sich ihre damaligen Einschätzungen oftmals gar nicht so stark voneinander unterschieden“, sagt Co-Autor Luca Henkel von der University of Chicago.
Um herauszufinden, inwieweit die Erinnerungsverzerrung motivationsgeleitet ist, stellten die Forschenden ihren Probanden in zwei Studien eine finanzielle Belohnung in Aussicht, wenn ihre Antworten besonders gut mit denen drei Jahre zuvor übereinstimmten. Zumindest in einer dieser Studien lagen die Antworten dadurch tatsächlich näher an den ursprünglichen Einschätzungen, die die Testpersonen im ersten Jahr der Pandemie geäußert hatten. „Das deutet darauf hin, dass die Verzerrungen zumindest teilweise motivational von der Einstellung zum Impfen beeinflusst werden und nicht allein durch Vergessen zu erklären sind“, folgern die Forschenden.
Wechselspiel von Erinnerung und aktuellen Einstellungen
Die Studien zeigten zudem, dass Personen, die ihre damalige Risikowahrnehmung und ihr damaliges Vertrauen in Regierung und Wissenschaft unterschätzten, die Maßnahmen rückblickend als weniger angemessen wahrnahmen. Zusätzlich befürworteten diese Personen häufiger, dass die Verantwortlichen aus Wissenschaft und Politik bestraft werden sollten oder das politische System zerschlagen werden sollte. Zudem gaben sie an, bei möglichen zukünftigen Pandemien die dann geltenden Maßnahmen nicht einhalten zu wollen.
Dabei stellten die Forschenden landesspezifische Unterschiede fest: Während in Schweden nur 19 Prozent der Befragten Strafen für politisch Verantwortliche forderten, waren es in Mexiko (49 Prozent) und Großbritannien (48 Prozent) fast die Hälfte der Befragten. Deutschland lag mit 29 Prozent im Mittelfeld. „Unsere Stichproben waren allerdings nicht darauf ausgelegt, Unterschiede zwischen den Ländern zu erheben“, schreiben die Forschenden.
In zukünftigen Studien wollen sie diesen Aspekt genauer beleuchten. Zudem wollen sie herausfinden, ob sich ähnliche Erinnerungsverzerrungen auch in anderen Zusammenhängen feststellen lassen, beispielsweise bei den Einstellungen zum Klimawandel. „Außerdem wollen wir Wege zur Verringerung der Polarisierung erforschen“, sagt Co-Autor Robert Böhm von der Universität Wien. „Eventuell lässt sich die Identifikation von Geimpften und Ungeimpften mit ihrem Impfstatus reduzieren. Damit könnte sich die Motivation verringern, die Erinnerungen überhaupt zu verzerren und somit die Aufarbeitung der Pandemie verbessert werden.“
Quelle: Philipp Sprengholz (Universität Bamberg) et al., Nature, doi: 10.1038/s41586-023-06674-5
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