#In 300 Jahren werde ich frei sein
Inhaltsverzeichnis
Mit „Andersens Erzählungen“ in der Inszenierung von Philipp Stölzl hat München ein bezauberndes Wintermärchen geschenkt bekommen. Das ist ein Abend, der alle Sinne berührt.
Es war einmal ein junger Däne, den zog es auf die Bühne in der großen Stadt Kopenhagen. Dort fand man, er habe kein Talent zum Schauspiel, doch der junge Mann – Hans Christian Andersen war sein Name – hatte Glück. Denn der Finanzdirektor des Königlichen Theaters nahm ihn unter seine Fittiche und förderte von nun an seine Begabung. Und siehe da, er wurde ein berühmter Schriftsteller bis über die Landesgrenzen hinweg. Aber er war nicht glücklich bis an sein Lebensende. Denn er blieb allein; er fand die Liebe, aber fand sie nicht erwidert.
Was bleibt diesem Hans Christian Andersen anderes übrig, als sich am Vorabend der Hochzeit seines Jugendfreundes Edvard Collin, des Sohnes des einstigen Finanzdirektors, für den er Gefühle hegt, die 1836 niemand hören will, in seine Phantasie zu flüchten. Zwiesprache zu halten mit all den Alter Egos, denen er nun auch hörbar seine Stimme leiht – wie dem kleinen frierenden Mädchen mit den Schwefelhölzern („Ehe du fertig bist mit deinem Märchen, bin ich schon tot“) –, sich vom eitlen Kaiser ohne Kleider und dem tapferen Zinnsoldaten Ratschläge anzuhören, bittere Lebenswahrheiten in faszinierend bunte Geschichten zu verpacken, sein Publikum lächelnd zu unter-halten und sich doch nicht willkommen zu fühlen. „Es ist erstaunlich“, lautet das Fazit. „Man erreicht den tiefsten Punkt. Den Punkt der tiefsten Schmach. Man denkt: Das ist das Ende. Aber es geht alles einfach weiter. Einfach so.“
Phantasievolle Stoffweberei
„Andersens Erzählungen“ – mit diesem Musiktheaterstück von zehn Jahren an hat nun auch München ein ganz besonderes Wintermärchen. Als Auftragswerk für das Theater Basel von Andreas Beck initiiert und Ende September 2019 als Dreispartenproduktion uraufgeführt, feiert das Stück jetzt unter Becks Intendanz am Residenztheater deutsche Erstaufführung. Autor Jan Dvořák hat die beiden Tage im Leben des 31-jährigen Andersen mit dessen etwa zeitgleich entstandener Geschichte über „Die kleine Meerjungfrau“ zu einem kunst- und phantasievollen Stoff verwoben.
Am Tisch zurückgelassen: Thomas Lettow und Oliver Stokowski
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Bild: Sandra Then
Für die Musik der märchenhaften Passagen konnten die beiden Theater Jherek Bischoff gewinnen. Dessen moderne, abwechslungsreiche, emotional intelligente Kompositionen machen den 1979 geborenen Amerikaner, feinsinnig interpretiert von sechs Musikern unter der Leitung von Stephen Delaney, zu einer Traumbesetzung. Für München hat Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl – der dritte in diesem kongenialen Bunde – seine Operninszenierung sprechtheatergemäß überarbeitet, die Sänger der Märchenfiguren durch die Schauspieler ersetzt, die nun in Doppelrollen zwischen bürgerlicher Biedermeier-Kulisse und zauberhafter Unterwasserwelt, Reifrock und Fischschwanz, zwischen irdischem und phantastischem Leben changieren.
Du bist meine offene Wunde
Oliver Stokowski ist nicht nur der unbeugsame Vater Collin, sondern auch die herzlose Meerhexe; Cathrin Störmer nicht nur die leidgeprüfte Mutter Collin, sondern auch die verständige Großmutter der kleinen Meerjungfrau. Linda Blümchen spielt die junge, empathische Braut Jette, die an Andersens Lippen hängt; Thomas Lettow verwandelt sich vom gefühlvollen Prinzen in den verkaterten Bräutigam Edvard, der Andersen („Du bist meine offene Wunde! Du bist das, was mich schreiben lässt!“) halbher-zig von sich stößt. Isabell Antonia Höckel schließlich teilt sich den traurig-süßen, starken Part der Meerjungfrau singend mit der Tänzerin Pauline Briguet; ihre Meerschwestern geben in schillernder Glasklarheit die Sopranistinnen Laura Richter und Fee Suzanne de Ruiter.
Geheimnisvolle Melodie
Moritz Treuenfels trägt als Andersen den Abend. Demütig und unsicher beugt sich dieser Andersartige in Zylinder und Frack vor den Menschen, die ihn umgeben, nicht nur, weil er so groß und schlaksig ist; er sehnt sich nach einer Schulter, auf der er seinen schütter behaarten Kopf ausruhen kann, aus dem heraus all diese Geister steigen. Doch ist er in seinem Element, lässt er rasant die Puppen tanzen. Als Dompteur seiner Märchengestalten, verkörpert von sieben bezaubernden Tänzerinnen und Tänzern, stößt er den Spazierstock mit dem silbernen Entenknauf auf den Fußboden im Hause Collin. Das Ringen mit dem tanzenden Meerjungfräulein ist ein Ringen mit sich selbst, und die erschütternden Herzens-schreie des tapferen Dichters, mit denen er seinen sehnsüchtigsten Traum freilässt, ergeben eine geheimnisvolle Melodie – warum kann diese Geschichte nicht gut ausgehen? Oder vielleicht doch? Muss man wirklich durchhalten? Haltung bewahren? „In dreihundert Jahren werde ich frei sein!“, ruft die Meeres- der Menschenfrau zu. „Und du? – Wo bist dann du?“ So handelt der Abend auch von (gesellschaftlichen) Grenzen und (sexuellen) Konventionen, die lediglich die Phantasie zu überwinden vermag. Dieses Märchen ist auch heute noch nicht auserzählt.
Spielen, Tanzen, Singen, Musizieren – alles, was dies anspruchsvolle Musical ausmacht, vereint Treuenfels in seiner Rolle zwischen kindlicher Fröhlichkeit und todessehnsüchtiger Melancholie. Und ganz gleich, mit welchem professionellen Maß man hier messen möchte, die schönsten, berührendsten Augenblicke des mehr als zweistündigen Abends sind die, in denen diese vier wie selbstverständlich, scheinbar mühelos ineinandergreifen – als außergewöhnliches Fest für die Bühne, über das jeder, der noch ein bisschen an die Vorstellungskraft glaubt, staunen muss.
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